Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Palast der blauen Delphine

Titel: Palast der blauen Delphine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
Vom Netzwerk:
ließ die vielen Worte an sich vorbeirauschen, bis ihn eine Bemerkung plötzlich stutzig werden ließ.
    »Nun bin ich schon so lange von zu Hause fort und muß noch Jahre hier bleiben, bevor ich meine Familie wiedersehe«, hatte Bitias gestöhnt. »Manche von uns behaupten, die Königin würde uns überhaupt nicht wieder fortlassen.«
    »Bist du denn nicht gerne hier?« fragte Asterios und mußte im gleichen Atemzug an seine eigene Situation denken. Ihn hatte auch niemand gefragt, ob er mit seinem neuen Leben einverstanden sei. Er lächelte ein wenig bitter. Sie waren davon ausgegangen, daß er sich fügen würde.
    »Weißt du«, begann Bitias und sah ihn mit scheuen Augen an, »im großen und ganzen gefällt es mir gut auf Kreta. Manchmal allerdings überfällt mich ein furchtbares Heimweh. Besonders, wenn mir bange ist.« Er sah aus, als ob er gleich zu weinen beginnen würde.
    »Du schaffst deinen Sprung, ich weiß es«, machte Asterios ihm Mut.
    »Das ist es nicht, was ich meine.« Bitias schüttelte den Kopf. »Es ist das Fremdsein, das wehtut. Du kannst dir nicht vorstellen, wie man sich fühlt, wenn man nicht dazugehört.«
    Das kann ich wohl, dachte Asterios, dem auf einmal Merope in den Sinn gekommen war. Besser als du glaubst.
    Er blieb den ganzen Nachmittag über so einsilbig, daß auch Bitias schließlich die Lust am Reden verlor. Gegen Abend, als die Schatten länger wurden, versammelte Aiakos seine Schüler in der großen Halle. Der weißgekalkte Raum war mit großen, blau und dunkelrot bemalten Doppelschilden geschmückt. Die Mysten wußten, was sie verkörperten: den Leib der Göttin, die ihnen auf diese Weise ganz nah war. Auf dem steinernen Boden hatte man Sitzkissen kreisförmig angeordnet. In der Mitte stand eine große ovale Schüssel, gefüllt mit Erde.
    Vielen der Gesichter sah man die Anspannung an; zwei Mädchen hatten sich den ganzen Tag über krank gefühlt. Trotzdem hatte Aiakos auf ihrer Teilnahme bestanden. Ein wenig blaß saßen sie nun unter den anderen.
    Aiakos, der sich in der Kreismitte niedergelassen hatte, ließ seinen Blick lange in der Runde wandern, bevor er zu sprechen begann. Er war ernster als gewöhnlich, und seine Augen unter den buschigen Brauen glänzten beinahe fiebrig.
    »Ihr besitzt nun die Voraussetzungen für den Stiersprung. Eure Muskeln sind trainiert, eure Schnelligkeit ist gewachsen, und ihr habt gelernt, beim Absprung auf den richtigen Moment zu achten. Das ist die körperliche Seite. Die andere, weitaus wichtigere, über die ich immer wieder gesprochen habe, ist die geistige.«
    Der Lehrer ergriff die große Schüssel aus rotem Ton, die mit schwarzen Mäandern bemalt war, und hielt sie mit ausgestreckten Armen in die Runde. Dann ließ er sie herumgehen und forderte jede Schülerin und jeden Schüler auf, hineinzugreifen und das dunkle, ein wenig feuchte Material zu betasten.
    Erstaunt gehorchten sie. Nachdem alle die Erde berührt hatten, stellte er die Schüssel in die Kreismitte zurück. Wieder suchten seine Augen Asterios, als wollten sie ihm eine besondere Botschaft vermitteln. »Das ist es, worum es morgen geht«, sagte er schließlich. »Die Kulthandlung, die ihr vor dem Schrein der Doppelaxt vollbringen dürft, ist der zweite Schritt auf eurem Einweihungsweg. Ohne die Erde besäße nichts in unserem Leben Form; sie ist es, die uns trägt, auf die wir bauen können, und die uns nährt. Aber sie kann uns auch festhalten, gierig werden lassen und zu sehr an Besitz binden oder engstirnig machen. Nur wem es gelingt, diese geballte Kraft des Irdischen, symbolisiert durch den Stier, offenen Herzens zu meistern, kann auf dem Pfad der Erkenntnis weiter vorankommen.«
    Jetzt sah er nur noch Asterios an, der sich unter dem zwingenden Blick unbehaglich zu fühlen begann. Die nächsten, leiser gesprochenen Worte schienen nur für ihn bestimmt. »Natürlich sind wir Menschen aus Staub gemacht. Aber wir sind mehr als das. Morgen könnt ihr diesen hellen Funken für immer in euch entzünden – in Gegenwart der Großen Mutter, die durch ihre Hohepriesterin Pasiphaë verkörpert wird.«
    Draußen war es dunkel geworden, und die wenigen Öllampen warfen flackernde Schattenbilder an die Wände. Aiakos entließ seine Schüler mit der Aufforderung, bald ins Bett zu gehen, um frisch und ausgeruht zu sein. Für den nächsten Morgen war eine gemeinsame Anrufung der Großen Mutter vorgesehen. Zusätzlich empfahl er jedem, Sie im persönlichen Gebet um Ihren Schutz zu

Weitere Kostenlose Bücher