Palast der blauen Delphine
kannst du dich anders entscheiden.«
»Wie könnte ich das?« Ariadne schüttelte heftig den Kopf. »Nein, du kannst mich nicht umstimmen! Ich kann und will dieses Kind nicht zur Welt bringen, das mein Bruder gezeugt hat!«
Er ist nur dein Halbbruder, dachte Mirtho und ließ doch all die Worte ungesagt, die ihr schon auf der Zunge lagen.
Die Könige Ägyptens hatten mit ihren Schwestern Kinder gezeugt, um die Reinheit des Blutes zu erhalten. Auch dieses Kind besäße wahrhaft königliche Anlagen. Sie hatte gehofft, daß Ariadne sich für sein Leben entscheiden würde. Nur deshalb hatte sie all die Monate geschwiegen und ihr Geheimnis bewahrt, weil sie insgeheim gehofft hatte, daß sein Wachsen Ariadnes Sinn noch ändern würde. Aber Mirtho wußte auch, daß die Zeiten sich geändert hatten – selbst hier auf der Insel der Großen Mutter. Es gab nicht mehr viele wie sie, die an die Gültigkeit und Heiligkeit des alten Rechtes glaubten, das die Verbindung zwischen Geschwistern erlaubte, die von derselben Mutter abstammten. Für die meisten war eine Beziehung zwischen Bruder und Schwester tabu – auch Pasiphaë und viele ihrer jüngeren Ratgeberinnen teilten diese Ansicht.
Alles ist im Wandel, dachte Mirtho und hatte plötzlich das Gefühl, als ob Fäden ihrer Hand entglitten. Alles verändert sich, und wir können nichts anderes tun, als die Weisheit der Großen Wandlerin anzuerkennen, selbst wenn es schmerzhaft für uns sein mag.
»Das Schicksal schreibt sein eigenes Buch«, sagte sie und brachte trotz ihrer Enttäuschung ein kleines Lächeln zustande. »Deshalb beuge ich mich deiner Entscheidung. Ich bin bereit. Und du?«
Ariadne nickte und umklammerte ihre Hände, um das Zittern zu verbergen.
»Dann öffne deine Beine!«
Sie gehorchte, und mit geschickten Handgriffen führte Mirtho die Seegrasstengel ein. Anschließend berührte sie sanft Ariadnes bloße Schenkel. Unwillig wich das Mädchen zur Seite.
»Und was geschieht jetzt?« Ihre Stimme klang brüchig.
»Versuche zu schlafen. Über Nacht quellen die Stengel auf und weiten den Muttermund. Morgen früh verabreiche ich dir dann die Kräuter.«
»Wird es sehr weh tun?« fragte Ariadne und sah sie trotzig und verzweifelt an.
»Es ist keine Kleinigkeit, ein Kind nach einigen Monaten Schwangerschaft zu verlieren«, erwiderte Mirtho. »Du mußt sehr tapfer sein, Ariadne. Aber ich bin bei dir.«
Kurz vor Sonnenaufgang wurden die Mysten geweckt. Den üblichen Morgenlauf ersetzte ein Gymnastikprogramm im Freien, das alle ins Schwitzen brachte. Anschließend reinigten sie sich in den Badehäusern, bevor sie in ihre Gewänder für den Stiersprung schlüpften.
Zu Ehren der Göttin der Erde waren die Mädchen und Jungen mit knappen Schurzen aus Ziegenfellen bekleidet, die am Gürtel mit Kaurimuscheln geschmückt und mit Lederbändern gesäumt waren. Rote und blaue Bänder flatterten von ihren Haarknoten. Alle trugen weiche Schaftstiefel und hatten die Handgelenke mit Lederriemen bandagiert.
Nach der Anrufung der Großen Mutter stärkten sie sich mit Kräutertee und ein paar Löffeln Gerstensuppe, bevor sie zum Palast aufbrachen. An der Spitze des Zuges schritt Aiakos, ungewohnt formell gekleidet in einen weiten, safrangelben Umhang, der sich über Schurz und Hemd bauschte. Während seine Miene gelöst und heiter war, spiegelten sich in den Gesichtern seiner Schüler Aufregung und Beklommenheit wider.
Asterios ging schweigend neben Bitias, der wie immer seine Nähe gesucht hatte. Er hielt den Kopf gesenkt und versuchte die düstere Stimmung zu vertreiben, in der er sich seit Tagesbeginn befand. Nur ab und zu blickte er auf und hielt Ausschau nach Ikaros, aber er konnte den Freund nirgends entdecken.
Als sie den Theaterhof betraten, wurden sie mit lautem Applaus begrüßt. Auf den Rängen drängten sich die Höflinge, und in der Mitte der Sitzreihen befand sich die Tribüne der Königin. Man hatte den gepflasterten Boden mit hellem Sand in eine Arena verwandelt und zum Schutz der Zuschauer die ersten Stufen mit Holzwänden gesichert.
An der Stirnseite erhob sich ein steinerner Stufenaltar, der den heiligen Schrein trug. Noch waren seine Türen verschlossen und zeigten die aufwendig gearbeitete Holzarbeit mit eingelegten Elfenbein- und Ebenholzfeldern. Daneben standen zwei Tonkannen, über und über mit tönernen Brustwarzen besetzt. Ein Schöpflöffel aus gepunzter Bronze, ein Wasserspender und mehrere kleinere Salbgefäße lagen für die Zeremonie
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