Palast der blauen Delphine
bereit.
Schließlich verebbten Klatschen und Murmeln. Pasiphaë, die über einem silbriggrünem, von Schlangenlinien und Lilienblüten durchsetzten Volantrock ein scharlachrotes Mieder trug, hatte ihre Hände zum Gebet erhoben. Unter dem aufgesteckten Haar war ihr Gesicht so stark geschminkt, daß es einer Maske glich. Nur ihre Hände bewegten sich, als sie laut und deutlich die überlieferten Worte sprach.
»Die Göttin segne euch und beschütze euren Sprung über den Stier, der Ihr geheiligt ist. Sie ist die Himmelskuh, die die Erde mit Ihrem Milchregen nährt.«
Sie nahm eine der Kannen, benetzte den Boden vor dem Altar und sprengte einige Tropfen auf die Zuschauer, die andächtig die Arme verschränkt hielten.
»Wir bitten dich, Große Mutter, nimm den Mut und die Kraft dieser jungen Athleten mit Wohlgefallen an. Mach sie zu Töchtern und Söhnen Deiner Erde und Deines gestirnten Himmels!«
Sie wandte sich zum Schrein und öffnete ihn. Zwischen rotbraunen Säulen, die bronzene Kulthörner krönten, schimmerte die heilige Doppelaxt, vor der sie sich kurz verneigte.
Dann gab sie Aiakos ein Zeichen, und die Mysten begannen in langer Reihe an Pasiphaë vorbeizudefilieren. Jeder empfing einen Schluck von dem Schöpflöffel, den sie immer wieder mit Wasser aus einer der Brustkannen füllte, und wurde von ihr mit Rosenbalsam zwischen den Brauen gesalbt.
Als Asterios vor ihr stand, kam es ihm vor, als ob ihre Hand bei der Berührung ein wenig zitterte. Ihre Finger auf seiner Stirn fühlten sich kühl und zart an, ihre Stimme war fest.
»Sie sei für immer mit dir! Sie beschütze dich auf all deinen Wegen!«
Anschließend begab sich Pasiphaë zu ihrer Tribüne und nahm zwischen Deukalion und Phaidra Platz, die aufgeregt nach unten zeigte.
Es war soweit. Das hölzerne Gatter sprang auf, und ein massiger Bulle stürmte schnaubend in die Arena. Die Hörnerspitzen hatte man in Blattgold getaucht, und sein langer Schwanz, der nervös hin und her peitschte, war mit goldenen Bändern umflochten.
Auf den steinernen Stufen hielten die Zuschauer den Atem an.
Ariadne war schon wach, als Mirtho kurz nach Sonnenaufgang in ihr Zimmer kam. Mit großer Behutsamkeit entfernte die alte Amme die Stiele und führte das Gazesäckchen mit den Kräutern ein. Danach gab sie ihr den gallebitteren Sud zu trinken.
Ariadne verzog angeekelt das Gesicht, leerte aber die Tasse in einem Zug und spülte den Mund mit Wasser aus. Dann legte sie sich aufs Bett zurück.
Die Zeit verging, und nach und nach konnte Mirtho fühlen, wie Ariadnes Abwehr bröckelte und ihre Sehnsucht nach Trost und Nähe wuchs. Als sie eine kleine Bewegung machte, nahm die alte Frau sie in die Arme und wiegte sie wie ein Kind. Dazu murmelte sie leise, beruhigende Worte.
Endlich konnten die lange unterdrückten Tränen fließen, und das Mädchen preßte sich fest an den Körper der alten Frau.
Dann, ohne Vorwarnung, kam die erste Schmerzwelle, die ihren Leib zusammenzog und ihr die Luft nahm. Erschrocken richtete sie sich auf.
Mirtho hieß sie, gleichmäßig weiterzuatmen und ließ ihre warme Hand auf Ariadnes Sonnengeflecht ruhen. Das Mädchen hechelte leise und wollte sich gerade entspannen, als die Welle zurückkam, diesmal noch stärker.
Mit verzerrten Zügen glitt Ariadne vom Bett und ging instinktiv in die Hocke, beide Hände fest an den Leib gepreßt. Mirtho stützte ihren Rücken mit dem Knie.
»Atme, Ariadne«, sagte sie und streichelte ihre Wange. »Du mußt ausatmen, wenn der Schmerz am größten ist. Die Wehen kommen jetzt immer schneller. Schrei, wenn du willst. Es wird noch eine ganze Weile dauern.«
Das Los bestimmte die Reihenfolge. Asterios hatte den zweitlängsten Seegrasstengel gezogen und würde folglich als vorletzter starten. Zusammen mit den anderen verfolgte er auf den untersten Stufen der Tribüne, gleich hinter dem hölzernen Schutzwall, den Stiersprung.
Nun war die Reihe an Bitias, der ihm vor dem Anlauf einen letzten ängstlichen Blick schickte. Aufmunternd nickte Asterios ihm zu und deutete auf seine Brust. Der kleine Athener verstand das Zeichen und lächelte. Am Morgen hatte ihm Asterios eine bläuliche Muschel als Talisman für diesen besonderen Tag geschenkt. Stolz trug er das Zeichen der Zuneigung an einem Lederband.
Bitias nahm die Startposition ein und versuchte, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Als der Stier auf ihn zukam, glückten ihm einige kraftvolle Schritte. Beherzt griff er nach den Hörnern. Der Bulle
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