Palast der blauen Delphine
Leidenschaft nach und nach abgekühlt. Aber noch immer gab es Augenblicke, in denen seine Begierde neu aufflackerte. Dann griff Hatasu auf ihr probates Mittel zurück. Schon damals hatte sie sich dem König entzogen, Knossos und die anderen Paläste gemieden und sich im Haus ihres Vaters in ihre Studien versenkt. Heute gab es kaum eine Heilerin auf Kreta, die sich mit ihr messen konnte.
Nach Möglichkeit schlüpfte Hatasu durch ein Nebentor in den Palast, die Ledertasche mit den Medikamenten wie einen Schild vor die Brust gepreßt. Anfangs war ihre Weigerung unumstößlich erschienen, als aber erst Mirtho und schließlich auch Pasiphaë sie unter Tränen beschworen hatten, den Kranken zu retten, hatte sie nachgegeben und war sogar zur Nachtwache in Phaistos bereit gewesen.
Dennoch rief der leise Anisgeruch, der nach den Räucherungen in den Fluren schwang, die alte Beklemmung in ihr wach. Dann meinte sie, hinter jeder Ecke das lüsterne Gesicht des Königs zu sehen und fühlte sich nicht mehr wie Hatasu, die Heilkundige, auf ihrem Weg zum Krankenzimmer, sondern wie das ängstliche Mädchen mit den schwarzen Augen, das sich damals versteckt hatte.
Bis jetzt war es ihr gelungen, dieses Unbehagen aus früheren Tagen vor Asterios zu verbergen. Sie löste die Schlinge um seinen Hals und öffnete den Leinenverband. Die Wunde war gut, wenngleich wulstig verheilt, und neben der neuen Haut zeichneten sich bräunlich die Stiche ab.
Asterios beäugte skeptisch seinen linken Arm, der gegen den rechten dünn und kraftlos wirkte. Er versuchte, ihn sachte zu drehen und stöhnte, als er eine ungeschickte Bewegung machte.
»Du mußt Geduld haben«, tröstete ihn Hatasu, während sie die Fäden entfernte. »Zweimal täglich kannst du ihn mit dieser Kamillensalbe bestreichen. Das Wichtigste aber ist, ihn vorsichtig und ganz allmählich wieder an die Belastung zu gewöhnen.«
»Werde ich jemals wieder springen können?«
Als sie sich vorbeugte, sah er den goldenen Löwinnenkopf zwischen ihren kleinen Brüsten baumeln. Mittlerweile wußte er, daß er Sachmet darstellte, in ganz Ägypten als Göttin der Heilkunst verehrt. Ein schwacher, sehr weiblicher Duft stieg aus dem Ausschnitt auf. Er genoß Hatasus Wärme, ihre Nähe.
»Aber sicher – vorausgesetzt, du läßt dir genügend Zeit.«
Sie waren allein in seinem Zimmer, und Hatasu mußte sich eingestehen, daß sie sich befangen fühlte. Asterios trug nicht wie üblich einen einfachen Schurz, sondern war mit einer gefältelten Hose und einem weißen Leinenhemd bekleidet, was ihn erwachsen machte. Sein braunes Haar war frisch gewaschen, und als sie seinen Arm versorgt hatte, war sie ihm länger als unbedingt nötig nah gewesen.
Er ist noch ein Knabe, sagte sie sich, und wußte im selben Augenblick, daß sie sich etwas vormachte. Der Ausdruck in seinen goldgefleckten Augen hatte nichts Kindliches mehr. Asterios ließ eine Saite in ihr anklingen, die lange geschwiegen hatte.
Er verwirrte sie. Und zog sie an. Sie fühlte sich unsicher, wenn sie bei ihm war, und sehnte sich nach seiner Nähe, kaum war sie allein. Er war so anders als die Männer, die sie bislang gekannt hatte! Offen, verletzlich, umgeben von einem dunklen Geheimnis, das ihm trotz seiner Jugend Tiefe und Reife verlieh. Sie war seine Lehrerin. Aber sie hätte viel darum gegeben, wenn er die Frau in ihr gesehen hätte. Und die vielen Jahre, die sie älter war? Die andere Kultur, aus der sie stammte?
Um sich von ihren widersprüchlichen Gefühlen abzulenken, fragte sie ihn zum erstenmal nach den Ursachen des Sturzes.
Asterios zögerte. »Ich sehe manchmal seltsame Dinge«, sagte er schließlich leise, »von denen ich nicht weiß, ob sie schon geschehen sind oder sich noch zutragen werden. Manchmal hoffe ich, daß sie nur meiner eigenen Phantasie entspringen.«
Sie starrte ihn erstaunt an. In ihrer Heimat galten Menschen, die diese Gabe besaßen, als Bevorzugte der Götter.
»Du besitzt – das Gesicht?«
Er nickte. »Mirtho hat es so genannt.«
»Was geschah während deines Sprungs, Asterios?« wiederholte Hatasu ihre Frage und ließ ihn nicht aus den Augen.
»Das kann ich dir nicht sagen«, antwortete er hastig. »Ein schreckliches Bild …« Er biß sich auf die Lippen.
»Ohne Ankündigung? Gab es keine Vorzeichen, keine Warnung?«
»Das Gesicht überfällt mich wie ein Unwetter«, erwiderte er unglücklich. »Oder ein böser Albtraum. Gleichgültig, wo ich gerade bin oder was ich tue.«
Beide
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