Palast der blauen Delphine
Sänfte auf. Minos stieg aus, blieb am Rand des Tanzplatzes stehen und nickte Merope zu.
Langsam erhob sie die Arme zum Gebet. Ihr scharlachroter Umhang öffnete sich und enthüllte ein Kleid, das mit den Blüten des wilden Granatapfelbaumes gefärbt worden war und in sattem Violett leuchtete. Um ihre bloßen Arme wanden sich Spiralen; zwischen ihren Brüsten hing ein großes goldenes Amulett.
»Vom Leben zum Tod, vom Tod zum Leben!« betete sie. »Bevor Du die Mysten in Deinem geheiligten Mutterleib empfängst, wo sie dem Geheimnis des Labyrinths begegnen, läßt Du sie im Tanz das Universum erfahren.« Sie erhob ihre Stimme. »Der Kreis ist gebildet. Sie stehen zwischen den Welten. Jenseits der Grenzen der Zeit, wo Tag und Nacht, Geburt und Tod, Freude und Trauer eins werden.«
Mit dem Ende ihres Gebets setzten die Instrumente ein. Die Handpauken, Zymbeln und Klappern, begleitet vom tiefen Ton der Hörner und dem grellen Pfeifen der großen Doppelflöten, steigerten sich zu einem rauschenden Höhepunkt und brachen scheinbar unvermittelt ab. Dann begann das Lied der Trommeln.
Tänzerinnen und Tänzer, durch das rote Seil miteinander verbunden, folgten den Marmorschleifen und tanzten in zwei Reihen einander entgegen, bis der erste Teil der Kette den Wendepunkt einer Bahn passiert hatte und sich nunmehr in Gegenrichtung vorwärts bewegte. Siebenmal in jeder Richtung.
Asterios spürte, wie seine Handflächen feucht wurden, und er griff fester nach der Schnur. Trotz wackliger Knie gelangen ihm die ersten Sprünge des Sonnenvogels, der für seine Königin den Hort bereitet. Schon lag das dunkle Zentrum des Platzes vor ihm. Die letzten Schritte, und er war heftig atmend in der Mitte des Choros angelangt.
Die anderen standen so dicht um ihn, daß er sich kaum noch bewegen konnte. Auf der engsten Spiralbahn umgab ihn die Tänzerkette wie ein Schneckenhaus. Der Geranulkos im Herzen des Labyrinths.
Er saß fest. Jeder Weg nach außen war abgeschnitten.
Asterios schluckte. Versuchte, gegen die Panik anzukämpfen, die in ihm aufstieg. Er konnte den Schweiß der anderen riechen, die Ausdünstungen des lebendigen Walls aus Menschenleibern um ihn.
Die Trommeln schlugen so laut, daß er es kaum noch ertragen konnte. Er wollte sich die Ohren zuhalten und weglaufen. Aber sie hielten ihn. Riefen ihn. Schrien ihm ihre uralte Botschaft zu. Umdrehen, sangen sie. Gib alles auf! Schau nicht zurück! Du entkommst nur, wenn du mutig kehrtmachst und die entgegengesetzte Richtung einschlägst.
Auf einmal begann er es zu fühlen. Es stieg von unten auf, direkt aus der Mitte der Erde. Seine Fußsohlen begannen zu vibrieren, so groß war die Kraft, die der heilige Platz ausstrahlte und die durch ihn nach oben strömte. Nichts stand ihr im Weg. Er konnte sie bis in die Fingerspitzen fühlen, diese starke, klare, warme Energie, die durch ihn floß.
Er machte eine winzige Bewegung. Dann noch eine.
Erst blieb alles unverändert, und er fürchtete schon, ersticken zu müssen. Dann kam Leben in die Kette. Unendlich langsam, so kam es ihm vor, bewegte sich die Spirale der Tänzerinnen und Tänzer, wurde stückchenweise weiter und gab Raum für ihn frei, um eine S-förmige Schleife zu beschreiben und sie wieder nach außen zu führen. Weich, fließend strebte das Ende der Kette noch dem Zentrum zu, während der Anfang schon in umgekehrter Richtung kreiste. Der Reigen der Tanzenden hatte Asterios aus seinem Gefängnis befreit.
Zum Abschluß bedeckten die Mysten den Steinboden mit ihren erhitzten Leibern, hoben und senkten sie wieder und wieder, in rhythmischen Wellenbewegungen, die allmählich verebbten. In ihrer Mitte sprach Merope das Dankgebet.
»Unsere Reise durch das Leben gleicht einem Fluß, der im Dunkel der Berge entspringt und abwärts fließt, bis er in den Ozean Deines Lichts mündet. Namenlose der unzählig vielen Namen, Große Ewige, die wir nirgends finden und die doch überall erscheint, Mutter der Tage und der Nächte, gnädig hast Du Deine Töchter und Söhne empfangen! Öffne unsere Herzen, damit wir leben, um Deine Pracht und Deine Seligkeit zu preisen!«
Nachtwind bauschte ihren Umhang wie ein scharlachrotes Segel. Ihr Gesicht lag im Dunkel.
»Mutter, Mutter! Wo bist du?« Phaidras Stimme schallte durch das Treppenhaus des Ostflügels, in dem die königlichen Privatgemächer lagen. Durch zahlreiche Lichtschächte fielen die Sonnenstrahlen, die goldene Kringel auf die Spiralen des Wandfrieses warfen.
Abrupt
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