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Palast der blauen Delphine

Titel: Palast der blauen Delphine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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dein finsteres Gesicht nicht wenigstens jetzt ablegen?« sagte sie.
    »Ich bin hier vollkommen fehl am Platz!« stieß er hervor. »Wozu das Ganze? Zum Tänzer fehlt mir jegliches Talent!«
    »Es kommt nicht darauf an, daß du bei Reisebeginn bereits den Hafen kennst, den das Schiff deines Lebens ansteuert«, erwiderte Merope ruhig. »Betrachte den Choros als eine Art Landkarte, die dich leiten soll. Erst wenn der Reisende sein Ziel erreicht hat, kann er guten Gewissens alle Landkarten beiseite legen.«
    »Große Worte für einen kindischen Tanz!«
    »Das Gehorchen ist dir noch nie besonders leichtgefallen, nicht wahr, mein Sohn?«
    Er starrte auf den Boden. Merope schwieg.
    »Meinst du denn, ihr könntet ohne gründliche Vorbereitung das Labyrinth bezwingen?« fragte sie schließlich. »Hast du überhaupt eine Vorstellung von dem, was dich dort erwartet? Glaub mir, Asterios, der Kranichtanz ist alles andere als ein Kinderspiel!« Sie hatte sich erhoben und stand jetzt am Fenster. Die gelackte Pergamentfüllung war ein Stück beiseite geschoben, und herbstliche Nachtluft drang ins Zimmer. »Das Leben jedes Menschen ist ein Labyrinth, in dessen Mitte der Tod liegt«, sagte sie leise, als hätte sie seine Anwesenheit vollkommen vergessen. »In diesem großen Labyrinth des Menschenlebens sind viele kleinere, scheinbar in sich abgeschlossene Labyrinthe versteckt. Beim Durchmessen jedes einzelnen sterben wir zu einem Teil. Denn in jedem hinterlassen wir etwas von unserem Leben. Das Paradox des Labyrinths ist, daß sein Zentrum in die Freiheit führt. Das ist das Geheimnis der großen Spirale.«
    »Aber warum gerade die Spirale?« wollte Asterios wissen. »Welche Bedeutung hat sie?«
    »Komm zu mir, mein Sohn«, forderte sie ihn statt einer Antwort auf. Sie sahen beide hinauf zum Himmel, an dem weiß die Mondsichel leuchtete.
    »Da droben findest du die großen Vorbilder«, sagte Merope ehrfürchtig. »Sternenspiralen, die weitere Spiralen nach sich ziehen und immer weitere. Und unten, am Boden, kannst du die kleinen entdecken: Muscheln, Schneckenhäuser, winzige Symbole der Unendlichkeit. Die Spirale entspricht dem Atmen des Kosmos und dem lebendigen Band in uns, das uns zur nächsten Stufe der Erkenntnis führen kann. Auf diesem Weg gibt es keine Abkürzungen, Asterios, gleichgültig, wie wir uns auch anstrengen! Jeder von uns hat in seinem Leben die Wahl zwischen Chaos und Ordnung. Oftmals aber stehen wir so nah vor den Dingen, daß uns die nötige Übersicht für eine Entscheidung fehlt. Aber es gibt zuverlässige Hilfsmittel, Landkarten, wie ich sie gern nenne, die uns dabei unterstützen. Der Kranichtanz ist eine davon.«
    Asterios runzelte die Stirn.
    »Er zeigt dir auf symbolhafte Weise den Weg aus dem Labyrinth und verbindet dich gleichzeitig mit dem pulsierenden Rhythmus dieser Welt«, fuhr Merope fort. »Du bewegst dich, bis die Sterne, die Wolken, die Blumen mittanzen und sich zu einem alles umspannenden Reigen verbinden.«
    Er sah sie unverwandt an, und Merope entdeckte den teils grüblerischen, teils gebannten Ausdruck in seinen goldgefleckten Augen, den sie schon geliebt hatte, als er noch ein Kind war. Sie bemerkte aber auch, wie müde er aussah.
    »Viel Weisheit für einen einzigen Abend«, lächelte sie. Für die letzten Geheimnisse war es noch zu früh. Die würde sie ihm anvertrauen, wenn der Tag gekommen war, der ihn in den Leib von Mutter Erde führte.
    »Besonders für einen Tänzer mit schmerzenden Gliedern und schwerem Kopf«, antwortete er erleichtert.
    »Geh schlafen, Asterios, und mach dir keine Gedanken, wenn du heute noch nicht alles verstanden hast. Zur rechten Zeit wird die Saat in dir zu keimen beginnen.«
     
    Die Herbstnacht war stürmisch und kühl. Auf hohen Holzpfählen hatte man rings um den Choros Dutzende von Fackeln angebracht, die im auffrischenden Wind flackerten. Zusammen mit dem Mond, der wie ein milchiger Ball am Himmel schwamm, tauchten sie den Platz in ein seltsames Zwielicht.
    Die Mysten fröstelten in ihren dünnen Gewändern. Die Mädchen trugen wadenlange weiße Kleider, die in der Taille mit roten, weinlaubbesetzten Bändern gerafft waren; die feinen Hemden der jungen Männer waren mit silbernen Riemengehängen gegürtet. Bei keinem fehlte der sichelförmige Dolch im ledernen Halfter.
    Noch immer war keine Spur von Minos zu sehen. Die Wartenden gingen auf und ab, schauten immer wieder zum bedeckten Himmel hinauf und versuchten, sich warm zu halten. Endlich tauchte seine

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