Palast der Stürme
Courage in den Garten zu gehen und dem Hund ein paar neue Befehle beizubringen, hatte ihre Halbschwester die Sache scheinbar bereits vergessen.
Beim Abendessen erzählte Sera jedoch ihrem Vater, dass Roxane ohne Begleitung nach Delhi gefahren sei und nicht einmal den Stallknecht mitgenommen habe. Roxanes Wangen röteten sich, als der Colonel seine Gabel sinken ließ und seine ältere Tochter über den Tisch hinweg anstarrte.
»War das klug, Roxane?«, fragte er.
Roxane zwang sich zu einem Lächeln und aß weiter. »Mir ist nichts geschehen«, erwiderte sie.
»Was hast du ganz allein in Delhi gemacht?«
Roxane kaute, schluckte und trank einen kleinen Schluck Limonade, bevor sie antwortete.
»Es ging um eine Privatangelegenheit, über die ich nicht sprechen möchte, Papa«, erklärte sie und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Teller.
Max Sheffield kniff die Augen zusammen und rückte die Serviette auf seinem Schoß zurecht.
»Hat es etwas mit Ahmed Ali zu tun?«
Roxane trank wieder einen Schluck aus ihrem Glas. »Falls du damit fragen willst, ob etwas Ungebührliches vorgefallen ist, so lautet meine Antwort: Nein. Wenn du dich allerdings nur erkundigen möchtest, ob ich Ahmed heute gesehen habe, heißt meine Antwort: Ja.«
»Du hast dich mit diesem Mann ohne Begleitung getroffen?«
Roxane wandte sich ihrem Vater zu und sah ihm in die Augen, während sie kurz über diese Frage nachdachte. Bisher hatte sie sorgfältig darauf geachtet, nicht zu lügen, aber dennoch nicht die ganze Wahrheit zu verraten. Sie beschloss, auf diesem Kurs zu bleiben und ihm nur die nötigsten Informationen zu geben.
»Nein, Sir, das habe ich nicht.«
Der Colonel hob seine Hand und ließ sie so heftig auf den Tisch niedersausen, dass das Geschirr klirrte und Roxane und Sera erschrocken zusammenzuckten.
»Verdammt!«, fluchte er und bückte sich, um seine heruntergerutschte Serviette vom Boden aufzuheben. Er warf das verknitterte Tuch neben seinen Teller. »Du lebst in meinem Haus, Roxane, und ich werde mir kein unschickliches Verhalten von meiner Tochter gefallen lassen!«
Roxane tupfte sich die Lippen mit ihrer Serviette ab und legte das weiße Stofftuch wieder auf ihren Schoß. Auf die gleiche Art wie ihr Vater kniff sie die Augen zusammen – allerdings hätte er in diesem Moment die Ähnlichkeit zwischen ihnen nicht zugegeben.
»Ich habe mich heute nicht unschicklich verhalten, Papa«, betonte sie sorgfältig.
Falls Max das Wort »heute« aufgefallen war, ließ er es sich nicht anmerken. Wütend beugte er sich vor.
»Hat meine Tochter etwa Geheimnisse vor mir?«
»Im Leben deiner Tochter, die du so viele Jahre lang ignoriert hast, mag es Facetten geben, von denen du nichts weißt. Als erwachsene Frau hat sie jedoch ein Recht auf ihre Privatsphäre, was bestimmte Dinge betrifft. Ich habe keine Schande über dein Haus gebracht, und das werde ich auch nicht tun.«
Der Colonel schob seinen Stuhl zurück und erhob sich. Er stützte sich mit seinem ganzen Gewicht auf seine Hände, sodass seine Fingerknöchel weiß hervortraten.
»Roxane, ich warne dich …«
»Du warnst mich, Sir?« Auf Roxanes Wangenknochen leuchteten rote Flecken. »Wovor willst du mich warnen? Falls es sich bei dieser Warnung lediglich um eine Drohung handelt, dann darf ich dich daran erinnern, dass ich immer noch finanziell unabhängig bin und dich ebenso schnell verlassen kann, wie du mich vor all diesen Jahren verlassen hast. Ich bin nach Indien gekommen, weil ich mich dazu entschlossen habe – die Andeutungen über finanzielle Zuwendung und Unterhalt in deinen Briefen, die du mir nach London geschickt hast, hatten keinerlei Einfluss auf meine Entscheidung.«
Roxane hielt dem Blick ihres Vaters stand und lauschte, wie er mühsam durch zusammengekniffene Nasenflügel einatmete, bevor er seine Schultern straffte und seine Jacke über seine Hüften zog.
»Ich verstehe«, sagte er knapp und verließ den Raum. Roxane hob wieder das Limonadenglas und packte es rasch mit beiden Händen, als sie feststellte, dass sie stark zitterte und beinahe alles verschüttet hätte. Ihr Puls raste, und ihr Atem ging stoßweise. Sie wusste, das ihr Zorn nicht nur eine Reaktion auf seine Fragen nach ihrem heutigen Verbleib war. Es ging auch nicht um seine versteckte Andeutung, obwohl er nicht wissen konnte, welchen Nerv er damit getroffen hatte. Er wollte die Vergangenheit vergessen, und in gewisser Weise konnte sie ihm das nicht übel nehmen. Aber es war nicht
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