Palast der Stürme
Verhältnisse als emotionalen Erpressungsversuch, dich nach Indien zu locken, gesehen hast. Das war mir nicht bewusst. Im Gegenteil – ich glaube, ich hätte keinen Wert darauf gelegt, eine Tochter wiederzusehen, die solchen manipulativen Taktiken nachgegeben hätte. Aber du bist weder schwach, noch lässt du dich von irgendwelchen eigenartigen Verhaltensweisen anderer Menschen beeinflussen. Irgendwie habe ich mir das gedacht. Ich hoffte, du würdest mir mehr ähneln als deiner Mutter, denn ich hatte Angst, dass mich dann das Schuldgefühl bei deinem Anblick zugrunde richten würde.«
Obwohl sein Tonfall kein Mitleid in ihr auslöste, war Roxane zu Tränen gerührt. Sie zog die Knie an, legte ihr Kinn auf den Baumwollstoff ihres Rocks, schlang die Arme um ihre Beine und starrte in die Nacht hinaus.
»Und nun?«, fragte sie schließlich.
»Hmm?«, erwiderte er, als hätte sie ihn aus seinen Tagträumen gerissen. »Nun? Ach so.« Er trank einen Schluck Brandy und legte nachdenklich den Kopf in den Nacken.
»Ich war immer stolz auf dich, Roxane, weil du selbstständig denkst, stark, witzig und klug bist – und das warst du bereits in einem zarten Alter. Glaubst du denn, ich hätte dich durch deine Briefe nicht kennengelernt, auch wenn du immer versucht hast, eine Barriere zwischen uns aufrechtzuerhalten? Zwischen deinen Zeilen konnte ich deinen Charakter lesen.«
Roxane schloss die Augen und öffnete sie dann langsam wieder. »Warum bist du nicht nach Hause gekommen? Warum hast du uns nicht nach Indien kommen lassen, damit wir bei dir leben konnten?«
»Deine Mutter wollte es nicht«, erklärte Max leise. »Sie hasste Indien.«
»Du hast sie gebeten hierherzukommen, und sie wollte nicht?«
»Ja, ich wollte sie zu mir holen, aber sie hat sich geweigert«, bestätigte Max. »Sie hat dieses Land nicht verstanden und hatte Angst davor. Und was dich betraf – ich glaube, dass Indien sehr hart mit seinen Kindern ist, egal, ob es sich um einheimische oder ausländische handelt.«
Das hatte Roxane nicht gewusst. In all den Jahren der Trennung war davon nie die Rede gewesen. Roxane kaute auf ihrer Unterlippe und betrachtete einen hellen Stern, bevor sie antwortete.
»Und trotzdem bist du nicht nach Hause zurückgekehrt.«
»Nein.«
»Warum nicht? Hast du … hast du meine Mutter nie wirklich geliebt?«
Max Sheffield verlagerte sein Gewicht auf dem Klappstuhl und stellte sein Glas auf die staubige Oberfläche des Dachs. Er lehnte sich zurück, kaute am Ende seiner Zigarre und legte den Stumpen dann quer über den Glasrand.
»Roxane«, begann er und faltete die Arme vor dem Bauch, während er sich zurücksinken ließ. »Ich habe Louisa sehr geliebt, wahrscheinlich mehr, als sie begriff. Ich habe nie aufgehört, sie zu lieben, und auch sie hat mich immer geliebt. Wir haben uns in all den Jahren nur sporadisch geschrieben, aber unsere Briefe waren sehr leidenschaftlich. Hast du das nicht gewusst?«
Roxane schüttelte den Kopf.
»Ja«, fuhr er fort, und seine Stimme klang jetzt sarkastisch und verbittert. »Wir haben uns jeden Tag unseres Lebens geliebt, aber bei all dieser Liebe haben wir nie gelernt, Kompromisse zu schließen. Vielleicht war uns beiden das Opfer dafür zu groß, wobei die Gründe deiner Mutter teilweise nobler waren als meine.«
»Und Cesya?« Roxane konnte sich diese Frage nicht verkneifen. Im Licht der Sterne beobachtete sie, wie ihr Vater die Lippen verzog – sie wusste jedoch nicht, ob Schmerz oder die liebevolle Erinnerung an sie der Grund dafür war.
»Im Verlauf meiner Selbstverleugnung wurde ich ein einsamer Mann.«
Roxane hatte immer noch die Arme um die Knie geschlungen und schaukelte langsam vor und zurück, während sie auf ihrer Lippe kaute. Sie schloss die Augen. Von der Straße tönte das Klingeln von Glöckchen – offensichtlich spazierte eine Ziege frei herum. Sie dachte an Cesyas dunkle, leere Hütte und an Sera, die ihren Vater ständig an die Frau erinnerte, die nicht seine große Liebe, aber seine Gefährtin gewesen war. Und sie dachte an Cesyas gewaltsamen Tod. Welche Gefühle brachte diese Tragödie in ihm hervor? Roxane hatte ihren Vater nie danach gefragt, und sie brachte es auch jetzt nicht fertig.
»Sera ist ein liebes Mädchen«, sagte sie nach einer Weile.
»Ja, das ist sie«, stimmte er ihr leise zu.
»Sie hat eine rasche Auffassungsgabe«, fuhr Roxane fort und erwärmte sich für dieses Thema. »Sie lernt alles sehr schnell. Und sie liest hervorragend! Hast
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