Palast der Stürme
leicht, diese Zeit auf Abstand zu halten, wenn die Mauer, die Roxane sorgsam errichtet hatte, zu bröckeln begann. Ihr war bewusst, dass er sich Vergebung wünschte, und sie war bereit, ihm zu vergeben – das war bereits der Fall gewesen, als sie ihren Vater hier in Delhi zum ersten Mal gesehen hatte. Was ihr jedoch schwerfiel, war, alles zu vergessen.
Plötzlich spürte sie eine leichte Berührung an ihrem Arm, und als sie sich umdrehte, sah sie Seras Hand auf dem Spitzenbesatz ihres Ärmels liegen.
»Roxane, verlass mich nicht«, bat das Mädchen und wandte Roxane sein hübsches, herzförmiges Gesicht zu. Die grünen Augen der Sheffields standen voll Tränen.
»Nein«, erwiderte Roxane. »Nein, natürlich nicht. Hier, zieh deinen Teller näher heran. Wenn wir aufgegessen haben, lesen wir gemeinsam etwas. Möchtest du das?«
Sera nickte heftig, hob ihren Teller und trug ihn an Roxanes Seite. Einer der Diener kam herbeigeeilt, um ihr den Stuhl zurechtzurücken. Sie kletterte darauf, ließ die Beine baumeln und aß gehorsam den Rest ihrer Mahlzeit auf.
Nachdem Roxane Sera zu Bett gebracht hatte, machte sie sich auf die Suche nach ihrem Vater, in der Hoffnung, ihn in seinem Büro zu finden. Sie trat über die Schwelle und zuckte bei dem durchdringenden Geruch nach Alkohol zurück. Zögernd ging sie einen Schritt weiter, bis sie die zerbrochene Flasche auf dem Schreibtisch sah. Sie lag auf der Seite, und der Whiskey floss über die Tischkante auf den Boden. Auf der Suche nach einem Lappen, mit dem sie die ätzende Flüssigkeit aufwischen konnte, stieß sie im Gang auf einen Diener, der wegen des Missgeschicks von ihrem Vater geschickt worden war.
»Wo ist der Colonel, der Sahib?«, erkundigte sie sich.
»Er ist auf dem Dach«, antwortete der Mann.
Roxane drückte die Luke auf und kletterte auf das Dach, wo sich die gespeicherte Hitze des Tages in flimmernden Schichten vom flachen Boden erhob und die Sicht auf den Garten verzerrte. Darüber wölbte sich der tintenschwarze, klare Himmel, geschmückt mit einer Vielzahl verschiedenfarbiger Sterne, die sich an manchen Stellen in einem milchigen Fluss vereinigten. Max Sheffield saß auf einem Klappstuhl, den er heraufgebracht hatte, stützte seine Füße gegen die niedrige Brüstung und zog an einer glimmenden Zigarre. Bei Roxanes Ankunft wandte er sich um. Im schwachen Schein des Lichts sah sie in seiner Hand ein Glas mit einem Rest Flüssigkeit darin. Seine Bewegungen wirkten vorsichtig und unsicher, aber seine Stimme klang erstaunlich nüchtern.
»Hast du dir einen Stuhl mitgebracht, Roxane? Nein? Ruf einen Diener und lass dir einen bringen.«
»Schon gut, Papa. Es macht mir nichts aus zu stehen.«
»Das weiß ich. Aber ich finde es verdammt ungemütlich, wenn du über mir schwebst. Ich würde mich ja neben dich stellen, aber ich habe das Gefühl, dass meine Füße mich im Augenblick nicht tragen würden.«
Roxane setzte sich wortlos auf den Boden. Der rote Staub hinterließ Flecken auf ihrem Rock und ihren Schuhen, aber da das Dach erst vor Kurzem gefegt worden war, hielt sich der Schaden in Grenzen.
»Roxane, ich bin froh, dass du hier bist …«
»Ja, ich wollte mit dir sprechen, Papa. Darüber, was heute beim Abendessen vorgefallen ist«, unterbrach sie ihn, um so rasch wie möglich zum Kern der Sache zu kommen. »Es tut mir leid, dass ich die Beherrschung verloren habe …«
Er drehte ihr den Kopf zu und machte mit der Hand, in der er die Zigarre hielt, eine abwehrende Bewegung.
»Roxane, damit meinte ich nicht deinen Besuch hier auf dem Dach. Ich meinte hier in Indien. Ich habe nie damit gerechnet, jemals nach England zurückzukehren, weil ich davon überzeugt war, nicht lange genug zu leben. Indien zehrt an den Kräften eines Mannes; es saugt ihn aus, bis nur noch eine vertrocknete Hülle übrig ist.«
»Unsinn!«, rief Roxane und erschauderte in der lauen Abendluft. »Du bist doch nicht krank! Und es geht dir besser, seit ich … seit …«
»Seit du hier bei mir bist und dich um meine Gesundheit kümmerst?«
Roxane starrte auf ihren Rock und drehte den Stoff zwischen den Fingern. »Ich wollte damit nicht sagen, dass …«
»Natürlich nicht! Natürlich nicht. Und manchmal wirst du mich wohl daran erinnern müssen, wie viel du für mich getan hast, trotz deiner Gefühle mir gegenüber und trotz deiner Einstellung zu meinen Entscheidungen, die ich in der Vergangenheit getroffen habe. Es tut mir leid, dass du meine Besorgnis um deine finanziellen
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