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Palast der Stürme

Palast der Stürme

Titel: Palast der Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alyssa Deane
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Gästen der Stantons an diesem Abend, gelang es erst nach einigen Kunstgriffen, sich auf ihren Platz zu bugsieren. Als Collier sich dann setzte, fiel Miss Peabodys umfangreicher Rock über sein linkes Bein. Um nicht auf den Saum zu treten oder den steifen Unterrock zu zerknittern, war er gezwungen, sein Bein ganz still zu halten. Beinahe hätte er Roxane leidgetan.
    Zu ihrer Rechten saß ein weiterer Offizier – wie Harrison war auch er Captain der Native Infantry. Er war spät gekommen, erst als alle bereits am Tisch saßen, und nach den gegenseitigen Honneurs hatte sie beobachtet, wie dieser Mann – er hieß Harry Grovsner – mit Captain Harrison einige steife Floskeln ausgetauscht hatte. Colliers Stimme hatte dabei alles andere als freundlich geklungen.
    Aus dem kurzen Wortwechsel schloss Roxane, dass die beiden Männer sich kannten und sich offensichtlich nicht leiden konnten.
    Obwohl sie es zu verhindern versuchte, begegnete sie Captain Grovsner sofort mit gewisser Vorsicht, so als wäre die Tatsache, dass Captain Harrison den Mann nicht mochte, Grund genug, um ihm zu misstrauen. Dass sie nichts dagegen unternehmen konnte, zeigte ihr lediglich, in welch bedauernswertem Geisteszustand sie sich befand.
    Die indischen Diener trugen einige Speisen herein und bereiteten den ersten Gang vor, indem sie etliche Teller auf den Tisch und auf das Buffet dahinter stellten. Es gab Eier und Melone und getoastete Köstlichkeiten, die Roxane nicht kannte. Neben Geflügel in Sülze, darunter auch Pfau und verschiedene Wasservögel, entdeckte Roxane zu ihrem Erstaunen frischen englischen Rohschinken und Würstchen. In kleinen Schüsseln wurde eine Sauce dazu gereicht, wie auch zu allen anderen Mahlzeiten. Sie diente als Würzmittel und Gaumenkitzel für die durch die Hitze oft abgestumpften Geschmacksnerven und bestand aus Gewürzen und Meerrettich oder Curry. Roxanes Gaumen brauchte diesen genussfördernden Reiz noch nicht.
    Plötzlich drang schallendes Gelächter an Roxanes Ohren, das dann hinter einer Hand erstickt wurde. Alle Köpfe drehten sich zu ihrer Tischseite, und die Blicke wanderten an ihr vorüber und dann wieder zurück. Roxane beugte sich leicht vor, um an Captain Harrisons Kopf vorbeizuspähen. An seiner Seite kicherte die goldblonde Rose Peabody hinter vorgehaltener Hand. Die andere Hand hatte sie ungeniert auf seinen Arm gelegt.
    »Oh, Captain Harrison, Sie sind so witzig«, zirpte sie. Sie warf ihr Haar zurück und zeigte ihren modisch blassen Teint, bevor sie ihm unter halb geschlossenen Lidern einen Blick aus ihren hellblauen Augen zuwarf. Roxane setzte sich gerade hin und nahm ihre Serviette in die Hand.
    »Miss Sheffield«, sprach Captain Grovsner sie an und hob sein Weinglas. Er drehte den Stiel zwischen Daumen und Zeigefinger, sodass das Glas die Flamme der Kerze und den Schein der Öllampen einfing und vielfach widerspiegelte. »Miss Sheffield«, wiederholte er. »Wie gefällt Ihnen Indien bisher?«
    Roxane glättete die Serviette auf ihrem Schoß, senkte den Kopf und erwiderte nüchtern: »Ich finde es sehr interessant.«
    »Da Sie aus London kommen, erscheint es Ihnen sicher fremdartig oder zumindest ein wenig wunderlich.«
    »Wunderlich?«, wiederholte sie und hob den Kopf, um ihn anzusehen. Wie Captain Harrison hatte er dunkles Haar, aber seinen Locken fehlte der Glanz. Das galt auch für seine Gesichtszüge und seine braunen Augen. Außerdem war er viel kleiner. »Ja, natürlich ist einiges, was ich bisher gesehen habe, wunderlich, und die indische Kultur ist mir fremd, aber das betrifft nur mich persönlich und das, was ich bisher in meinem Leben kennengelernt habe. Was ich über die indische Kultur denke und empfinde, ist für die Kultur unerheblich. Wir befinden uns in einem Land, das nicht unser Heimatland ist; was wir hier sehen, ist für die Menschen, in deren Land wir jetzt leben, völlig normal. Wenn es darum geht, hier etwas zu verstehen oder zu befürworten, dann zählen weder Sie noch ich.«
    »Oh.«
    Der Mann setzte rasch das Glas an die Lippen und trank einen Schluck. Seine braunen Augen waren rot gerändert. Roxane nahm an, er hatte zu wenig geschlafen. Er trank sein Glas hastig leer und winkte nach einem weiteren. Roxane nahm ihren Löffel und begann die kalt gewordene Suppe zu essen.
    Neben ihr beugte sich Captain Harrison zu ihr hinüber, unter dem Vorwand, seine Serviette aufzuheben.
    »Gut formuliert, Miss Sheffield«, flüsterte er. In seinen Augen sah sie einen Ausdruck, der

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