Palast der Stürme
Captain Harrison, aber nicht daran, dass mein Kleid ruiniert ist.«
Sie gab ihm sein Taschentuch zurück; es war zerknittert von ihren heftigen Bemühungen und mit Wein befleckt.
»Bemühen Sie sich also nicht, sich dafür zu entschuldigen«, fügte sie hinzu und fegte an ihm vorbei ins Haus.
Collier blieb bewegungslos stehen. Neben seinem Kopf hing eine in ein feuchtes Tuch gewickelte Flasche Wein, um in der leichten Brise abzukühlen. Er drehte sie mit den Fingerspitzen, bis ein Diener aus dem Haus gelaufen kam, um sie vom Haken zu nehmen. Er nickte Collier zu, machte eine leichte Verbeugung und presste die Weinflasche gegen die rubinrote Schärpe an seinem Bauch.
»Abendessen, Sahib«, sagte er.
»Vielen Dank«, erwiderte Collier zerstreut. Mit einer Hand schob er sein Taschentuch zurück in die Brusttasche, mit der anderen schleuderte er die verbliebenen Scherben von Roxanes Glas in den Garten. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und ging ins Haus.
Von den anderen unbemerkt, schlüpfte Roxane aus dem Salon. Leise schlich sie sich in das Speisezimmer und erschreckte den Diener, der gerade große orangefarbene Blüten in einer Vase anordnete. Auf seine Frage hin erklärte sie, dass sie nur einen Blick auf den Tisch werfen wolle. Er trat einen Schritt zur Seite.
In der Mitte des Raums stand der Esstisch der Stantons, ein massives, in Nordamerika von Hand gefertigtes und geschnitztes Möbelstück, an dem vierzehn Personen Platz fanden. Heute Abend waren allerdings zwei Stühle entfernt worden. In Anbetracht der Größe des Bungalows und des Kolonialstatus der britischen Bewohner wirkten die Mahagonimöbel ein wenig unpassend, wenngleich sie auch sehr schön waren. Der Tisch war mit einem spitzenbesetzten Tischtuch verziert und mit Augustas bestem Geschirr, Silberbesteck und Gläsern gedeckt. Zwei massive Kerzenhalter erhoben sich an jedem Ende des Tisches; in den polierten silbernen Ständern spiegelten sich die Einrichtungsgegenstände des Raums wider. Roxane konnte sich selbst darin sehen, als sie weiterging – eine lang gestreckte Figur in blauem Musselin, die sich mit den Flammen der Kerzen wie ein farbenprächtiges Reptil wellenförmig an der Wasseroberfläche bewegte. Sie blieb hinter jedem Stuhl stehen, um die Namenskärtchen zu lesen, die jeweils gefaltet in der Mitte eines mit Blumenmuster verzierten Tellers standen. Die Namen waren in Unitys hübscher Handschrift verfasst, sodass sie sich nicht bücken musste, um sie zu entziffern.
An einem Platz blieb sie besonders lange stehen und starrte auf den Namen. Harrison C., Captain. Er sollte zu ihrer Linken sitzen. Das musste eine Bedeutung haben. Wer hatte sich das ausgedacht? Unity, die Romantikerin? Oder ihre Mutter, die wild entschlossen war, bald einen Ehemann für Roxane zu finden? Schließlich galt Roxane in Indien mit zwanzig Jahren bereits als alte Jungfer. Wie sie gehört hatte, heiratete man hier sehr früh. Für einige hieß es wohl, jetzt oder nie. Sie hingegen hatte keine Eile damit. Ganz und gar nicht! Eigentlich war es ihr egal, ob sie jemals heiraten würde.
Sie war sich nicht sicher, was sie dazu trieb. Vielleicht war es die Vorstellung, dass bestimmte Personen versuchten, ihr Leben zu manipulieren. Oder es war einfach nur die Tatsache, dass er während des Essens neben ihr sitzen würde. Unversehens und ohne Übergang zwischen ihren Gedanken und ihrem Handeln hielt sie die Karte des Captains in der Hand.
Sie starrte auf das dicke weiße Pergament und die fett gemalten schwarzen Buchstaben darauf. Mit einem Finger fuhr sie den Schriftzug nach und war überrascht, dass sie so etwas Kindisches wie einen Tausch der Platzkarten in Erwägung zog. Warum? Es lag nicht an Augusta Stantons Plänen, dass sie so verunsichert war. Damit würde sie ohne Schwierigkeiten und ohne Gewissensbisse fertig werden. Nein, es war Captain Harrison, der sie in diese Zwickmühle brachte. Captain Harrison, der die verblüffende Fähigkeit besaß, sie zu entwaffnen, und der sie trotzdem in Furcht versetzte. Es lag auch an Captain Collier Harrison, dass vor wenigen Minuten auf der Veranda in einer scheinbar vollkommen unschuldigen Situation plötzlich ihre Sinne geweckt worden waren und sie sich nicht mehr unter Kontrolle gehabt hatte. Männer hatten sie bisher nicht interessiert, außer sie hatte mit ihnen Freundschaft schließen können. Doch heute Abend, als der Captain sie mit seiner Ankunft erschreckt hatte, war sie sich verärgert bewusst geworden, dass
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