Palast der Stürme
sprang über die Brüstung in die Schatten jenseits der Rosenbüsche.
Seine Schuhsohlen knirschten auf dem Muschelkies, als er den im Mondlicht schimmernden Pfad entlangging. Dieser verdammte Narr, dachte er. Er ist betrunken. Collier kannte Grovsner in diesem Zustand und wusste, welche Neigungen er dann hatte. In solchen Situationen war der Mann nicht höflich oder in irgendeiner Weise von seinem Gewissen geplagt. Wenn Opium und Alkohol sein Gehirn benebelten, glaubte er, dass jeder Mann und jede Frau in seiner Umgebung genauso lasterhaft wären wie er. Wie Collier bereits festgestellt hatte, war Roxane Fremden gegenüber zu vertrauensselig. Sie würde den Mann nicht so einschätzen, wie er wirklich war – außer es war vielleicht schon zu spät.
Ohne es zu merken, hatte Collier seine rechte Hand zur Faust geballt und gegen seinen Oberschenkel gepresst, als kurz Bilder vor ihm auftauchten, wie Grovsner üblicherweise mit Frauen umging. Rasch verdrängte er die Vorstellung daran, verfluchte den Mann in Gedanken noch einmal und ging rasch weiter.
Blindlings umrundete er eine hohe Hecke und blieb dann abrupt stehen. Vor ihm auf dem mondbeschienen Pfad lag Harry Grovsner mit ausgestreckten Beinen. Er hatte sich auf einen Ellbogen gestützt und massierte mit der anderen Hand vorsichtig sein Kinn. Auf seiner Haut zeichnete sich ein frischer Bluterguss ab.
Als er in Colliers erstauntes Gesicht sah, wirkte er vollkommen nüchtern.
»Hallo, Harrison. Hilfst du mir hoch?«
Wortlos bückte Collier sich, packte den Mann bei den Schultern und zog ihn unsanft hoch. Der Offizier trat einen Schritt zurück und zuckte vor Schmerz zusammen.
»Was ist passiert, Harry?«
Grovsner zögerte mit der Antwort und suchte in seiner Tasche nach einer Zigarette. Er riss ein Streichholz an seiner Schuhsohle an und entzündete das abgerundete Ende. Rauch stieg auf und hüllte seinen Kopf ein. Bevor er sie löschte, zeigte die Flamme des Zündholzes seine Verletzung deutlicher als das Mondlicht.
»Nun?«
Grovsner zuckte die Schultern. »Ich nehme an, ich habe sie falsch eingeschätzt. Sie hat mir einen Faustschlag verpasst. Damit hätte ich nie gerechnet. Ich bin umgefallen wie ein Baby.«
Collier schwieg eine Weile. Als er sich wieder an Grovsner wandte, klang seine Stimme erschreckend ruhig.
»Welchen Grund hatte Miss Sheffield für ein solches Vorgehen, Harry?«
Grovsner zuckte wieder die Schultern. Sein Versuch zu lächeln scheiterte an der Schwellung an seinem Kinn. »Ach, du kennst mich doch, Collier. Ich habe mich hinreißen lassen. Schon während des Abendessens habe ich Gefallen an ihr gefunden. Sie sieht sehr gut aus, unsere Miss Sheffield. Aber, wie man sagt, sollte man einen Menschen nicht nach dem Äußeren beurteilen …«
»Halt den Mund, Harry! Das reicht.«
Captain Grovsner kniff seine braunen Augen zusammen und klemmte den Zigarettenstummel zwischen seine zusammengepressten Lippen.
»Du warst einmal ein guter Mann, Harry. Einer der besten, die Britannien der Kompanie zu bieten hatte. Aber Müßiggang, übermäßiges Trinken, Spielen und deine Opiumsucht haben dich zu einem Mann gemacht, auf dessen Bekanntschaft ich nicht mehr stolz bin.« Der andere sah ihn verblüfft an. »Ich nehme an, du hast einfach Glück gehabt, dass dein ehemaliger guter Ruf noch nicht ganz verblasst ist, sonst würdest du jetzt auf irgendeinem Posten im Hinterland versauern, wo du wenigstens keinen Schaden anrichten könntest.«
»Soll mich diese gefühlvolle Rede rühren, Harrison?«, fragte Grovsner träge. »Ehrlich gesagt lässt sie mich völlig kalt. Warum eine so vielversprechende Frau wie Miss Sheffield an jemandem wie dir interessiert sein könnte, kann ich mir nicht vorstellen. Sie hat Feuer und Kraft, was sich als höchst erfreulich erweisen könnte, wenn man es in die richtigen Bahnen lenkt. Aber das, mein guter alter Freund, wirst du persönlich wohl niemals erleben.«
Colliers Blick war so kalt und hart wie Stein. Er atmete tief, ohne seine Miene zu verziehen. Nur der zuckende Muskel an seinem Kinn zeigte, wie zornig er war.
»Harry«, stieß er hervor. »Du bist ein betrunkener Idiot.«
»Das ist meine Entschuldigung«, entgegnete Grovsner, trat einen Schritt zurück und stützte sich mit dem Ellbogen auf dem Kopf des Löwen ab. »Und was ist deine?«
Collier atmete weiter tief durch und ging auf den Mann zu. Erst als er weniger als eine Armlänge von ihm entfernt war, blieb er stehen und lächelte. Er glaubte, in
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