Palast der Stürme
kannst?«
Wäre er jetzt auf sie zugegangen, hätte sie berührt und sie inständig gebeten, hätte sie an seinen Absichten gezweifelt. Er blieb jedoch stehen, wo er war, und lehnte sich mit gefalteten Händen an den gelockerten Sattel. Sie hatte noch nie einen Mann gesehen, dessen Miene völlig ausdruckslos war, in dessen Augen jedoch ein tiefer Schmerz lag.
Sie duckte sich, um unter dem Kinn des Hengstes auf die andere Seite zu gehen und dem Captain über den Sattel hinweg ins Gesicht zu sehen. Der Geruch des Leders war angenehm und mischte sich mit dem Duft von gemähtem Gras. Eine Weile starrte Roxane auf Colliers gefaltete Hände, auf seine Haut im Schatten, dann legte sie ihre Finger sanft darauf.
»Waren es nicht Sie, der mich gewarnt hat, zu vertrauensselig zu sein?«, flüsterte sie.
»Ja.«
»Nun, dann.« Sie biss sich auf die Lippe und trat näher an das Pferd heran, sodass sie die Hitze fühlte, die von ihm ausströmte. Dort, wo sie ihm die Hand auf den Nacken gelegt hatte, stach ihr das harte Pferdehaar in die Handfläche. Mit der anderen Hand verstärkte sie den Griff um die Finger des Captains, so als wollte sie ihn trösten und ihn dazu bringen, ihre Ängste zu verstehen und ihre Bedingungen zu akzeptieren.
Collier seufzte, und der Hengst wich zur Seite. Offensichtlich hatte er genug davon, als Stütze herzuhalten. Roxane ließ sowohl das Pferd als auch Collier los. Sie ging einige Schritte und blieb dann stehen, um der Musik zu lauschen, die blechern aus der Ferne herüberwehte. Über ihrem Kopf raschelte das staubverkrustete Laub, als ein Windstoß durch die Bäume fegte. Sie hörte Schritte hinter sich. Die Stimme des Captains klang dunkel und weich.
»Roxane.«
Sie bewegte sich, drehte sich aber nicht um. Sie wusste, dass er nicht weit vom Saum ihres Kleids entfernt stand. Er hätte sie ohne Weiteres berühren können, wenn er das in der Dunkelheit vorgehabt hätte. Eigentlich erwartete sie das sogar und wappnete sich bewusst gegen das Vorgefühl, das ihre Haut prickeln ließ wie die Berührung einer kühlen Hand. Vielleicht war es dumm von ihr gewesen, mit ihm spazieren zu gehen, aber sie konnte sich zur Wehr setzen. Nicht so wie bei Captain Grovsner, sondern indem sie ihre eigene Schwäche unter Kontrolle brachte, dessen war sie sich sicher. Sie war immer stark gewesen. Immer.
Er stand jedoch bewegungslos da, seine Hände an den Seiten, die Finger um den Saum seines Jacketts gekrümmt. Seine entspannte Haltung ließ nicht darauf schließen, dass er irgendetwas vorhatte.
»Roxane.«
»Ja?«
»Ich habe dich nicht nur hierhergebracht, um dir mein Pferd zu zeigen.«
»Das weiß ich.«
»Tatsächlich?« Er lachte, wurde dann aber ernst. »Roxane, was weißt du über das politische Klima in Indien?«
»Ehrlich gesagt weiß ich sehr wenig darüber«, erwiderte sie, ohne ihn anzusehen. »Sicher nur halb so viel, wie ich sollte, und wahrscheinlich nur ein Drittel von dem, was Sie mir darüber sagen werden. Habe ich recht?«
Er lachte leise. Für einen kurzen Moment berührte er ihren Nacken, dann ließ er seine Hand wieder fallen. Roxane atmete tief aus. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass er die Schultern zuckte, beide Hände tief in die Taschen steckte und auf seinen Absätzen wippte.
»Als ich ein Kind war, war ich begeistert von den Geschichten über Indien, Clives Indien, das es schon lange nicht mehr gab. Der Pioniergeist war längst verflogen, aber das erfuhr ich erst später. Schon in diesem frühen Alter war ich fest entschlossen, in das Regiment der Königin einzutreten und bei der Ostindien-Kompanie zu dienen. Die Aussicht darauf war aufregend und romantisch, nehme ich an.«
»Jetzt hören Sie sich an wie Unity«, meinte Roxane.
Er brummte. »Nun, als ich jung war, war ich in dieser Hinsicht wohl wie Unity. In Addiscombe jedoch verlor ich diese romantische Vorstellung, glaub mir. Kennst du Addiscombe?«
»Ist das nicht die Schule, die von der Kompanie für militärische Ausbildung gegründet wurde? Und Haileybury war für die Ausbildung für Zivilbeamte gedacht, soviel ich weiß.«
Collier hob die Augenbrauen. »Sehr gut. In Addiscombe lernte ich, was aus Indien geworden war, und trotzdem hatte ich die Träume meiner Jugend noch nicht verloren. Als ich dann hierher kam, begriff ich, dass sich Indien nur für die Briten geändert hatte; dort, wo es nicht unter dem Druck der britischen Behörden steht, ist das Land zeitlos. Ich habe es lieben gelernt.«
»Aber ich … ich
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