Palast der Stürme
Lachen.
Obwohl Corporal Donald Lewis, Sohn von Colonel Archibald Lewis, seinen rechten Arm dafür gegeben hätte, Unity ihre Mahlzeit zu bringen, war ihm das nicht gestattet, weil sie eine Debütantin war. Stattdessen bediente Colonel Stanton die drei Damen aus seinem Haushalt und kümmerte sich gut gelaunt um sie. Einmal erwähnte er kurz die Abwesenheit von Captain Harrison, doch als er Roxanes Miene sah, beschloss er, den Namen des Offiziers nicht mehr zu nennen.
Roxane aß nur wenig und lauschte halbherzig Unitys Geplapper. Ohne auf die Vorbehalte ihrer Mutter Rücksicht zu nehmen, lobte das Mädchen Corporal Lewis’ Charme über alle Maßen. Nach und nach füllten sich ihre Tanzkarten. Schüchterne junge Männer baten um bestimmte Tänze des Abends, nachdem sie sich beim Kapellmeister über die Reihenfolge der Stücke informiert hatten. Im Umgang mit Unity wirkten sie locker, wohingegen sie Roxane gegenüber gehemmt und um Worte verlegen waren. Das überraschte sie ganz und gar nicht. Sie war es gewöhnt, dass ihr Auftreten manche Männer abschreckte.
»Stellen Sie sich nur vor«, wisperte Unity und kehrte wieder zu ihrem momentanen Lieblingsthema Corporal Lewis zurück. »Eine Liebe so kurz nach Eintritt in die Gesellschaft zu finden …«
»Liebe? Unity, bitte.« Roxane verdrehte die Augen.
»Wenn es schicklich wäre, würde ich ihm den ersten Tanz geben«, erklärte Unity entschlossen.
»Nun, das ist es aber nicht«, stellte Roxane fest. »Zumindest werde ich jetzt Gesellschaft haben, wenn ich aussetzen muss.«
Unitys Fröhlichkeit verschwand plötzlich von ihrem Gesicht.
»Oh Roxane, warum ist er nicht gekommen?«
»Wer?«, fragte Roxane mit gespielter Gleichgültigkeit. Obwohl sie immer noch höflich in den Saal lächelte, fiel es ihr zunehmend schwerer, gute Laune zu heucheln. »Meinst du Captain Harrison? Ich nehme an, er hat seine Gründe. Vielleicht ist er noch nicht zurückgekommen. Oder möglicherweise gibt es einen anderen Grund …«
»Welchen? Was denken Sie, was Ihn abgehalten hat?«
Roxane gab keine Antwort. Sie spießte ein viereckig zugeschnittenes Stück Pute auf eine zweizinkige Gabel, streifte es mit den Zähnen ab und begann zu kauen, als ob sie nichts anderes interessieren würde als ihre Mahlzeit.
Aber was war es wirklich? Hatte sie ihn in den wenigen Momenten so verärgert, dass er kein Interesse mehr an ihrer Gesellschaft hatte? Sei’s drum! Besser jetzt, während ihr Herz und ihr Leben noch ihr gehörten, als nach einigen Jahren Ehe, wenn sie und ihr einziges Kind, das aus einer einst großen Liebe entstanden war, von dem Mann verlassen wurden, der behauptet hatte, sie beide zu lieben.
Roxane erkannte, dass sie das, was ihr Vater ihrer Mutter angetan hatte, mit den erdachten Handlungen eines Captain Collier Harrison verwechselte. Rasch versuchte sie, ihre Gedanken einem anderen Thema zuzuwenden.
Vielleicht war ihm irgendetwas zugestoßen. Möglicherweise war er vom Pferd gefallen. Oder Schlimmeres war passiert. Was hatte er über das Leben gesagt? Dass es jegliches Absolute ausschließe. Ich könnte morgen sterben – im Kampf oder an einer Krankheit, waren seine Worte gewesen …
Hör auf damit!, schalt sie sich in Gedanken. War es nicht möglich, dass er durch seine Pflichten aufgehalten worden war, die Pflichten, derentwegen er hatte verreisen müssen?
Roxane spießte noch ein Stück scharf gewürztes Hühnchen auf und wandte ihre Aufmerksamkeit dem Ballsaal zu. Am mittleren Fenster stimmten die Musiker des Orchesters in strahlend weißen Uniformen ihre Instrumente. Der Schein der Lampen und Kerzen spiegelte sich überall im polierten Holz, Messing und Silber wider. Obwohl das Stimmengewirr und das Gelächter den Klang der Musikinstrumente beinahe übertönte, konnte Roxane die Violine und das Cello heraushören – das eine Instrument klang hell und süß, das andere melancholisch und ließ schmerzliches Sehnen anklingen.
Oh Collier, dachte sie. Wo bist du?
Plötzlich flatterte über ihren Köpfen eine riesige helle Motte und warf ihren Schatten über die Gäste unter sich. Rasch kam einer der einheimischen Diener mit einem Netz an einer langen Stange herbeigeeilt, fing das Insekt ein und beförderte es zur Tür hinaus.
Roxane wandte sich Unity zu. Mit einem Mal wurde sie von einer düsteren Vorahnung überwältigt. Das Mädchen lächelte ihr unbekümmert zu; es sah reizend aus in seinem blauen Kleid und dem Blumenschmuck.
Wenn Collier nun recht hatte? Was
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