Palazzo der Liebe
ich endlos laufen. Ich denke, so können wir Venedig viel besser erkunden.“
„Tapferes Mädchen!“, lobte Stephen und legte einen Arm um ihre Schulter.
Sie gab ihm nun einen kleinen Seitenstüber. „Jetzt sag bloß nicht, die Frauen, die du bisher kanntest, waren nicht gut zu Fuß.“
„Autsch! Ganz schön giftig … aber du hast recht. Gina würde keinen Schritt laufen, wenn es zum Shoppen nicht unerlässlich wäre.“
Die Erwähnung der Marchesa dämpfte schlagartig Sophias gute Laune. Hätte sie nur der Versuchung widerstanden, Stephen ein wenig zu necken.
Sobald sie den Palazzo verließen, hüllte sie eine brütende Hitze ein. Die Sonne stach so erbarmungslos vom Himmel, dass Sophia aufrichtig froh war, ihre dunkle Brille aufsetzen zu können.
Nachdem sie die gleiche Brücke überquert hatten wie am Abend zuvor, wanderten sie durch ein Labyrinth von engen Gassen und schmalen Treppen, in Richtung der Piazza di San Marco. Hier ging es viel ruhiger zu als auf den offiziellen Touristenwegen. Die meisten Fensterläden waren geschlossen, hinter dem einen oder anderen hörte man einen Fernseher laufen, und ab und zu kamen sie an einer offenen Tür vorbei, hinter der jemand seiner Arbeit nachging. Ansonsten waren die Straßen nahezu menschenleer.
„Bei einer derartigen Hitze bleiben die Venezianer lieber im Haus oder halten sich in ihren schattigen Innenhöfen auf“, erklärte Stephen auf Sophias Nachfrage.
Kurz vor der Piazza reihten sie sich wieder in den Touristenstrom ein, und Sophia bekam plötzlich den Eindruck, ganz Venedig feiere eine große Party. Überall tummelten sich bunt angezogene, schnatternde Menschen aller Nationen, und das Sonnenlicht tanzte auf dem bewegten Wasser des Kanals, wo die zahllosen unterschiedlichen Boote wie eine fröhliche Festparade wirkten.
„Wo liegt denn Harry’s Bar?“, fragte sie, als sie die Piazza erreicht hatten.
„Es dauert nur noch ein paar Minuten“, versprach Stephen. „Sie liegt ziemlich dicht am Wasser.“
An der Stelle, wo sich der Canale Grande zum Canale di San Marco erweiterte, blieb er stehen und deutete mit dem Finger über das blaue Wasser zur anderen Uferseite.
„Dieser Streifen Land dort drüben heißt Giudecca. An der Ostspitze liegt das berühmte Hotel Cipriani … umgeben von prachtvollen Gärten, verfügt es als einziges Hotel in Venedig über einen Swimmingpool. Und hier ist Harry’s Bar …“, stellte er mit einem Schwenk um hundertachtzig Grad vor.
Unauffällig an einer Ecke gelegen, wirkte die berühmte Bar so unscheinbar und diskret, dass es Sophia verblüffte. Auch innen war die Bar hell und elegant eingerichtet, ohne roten Plüsch oder was sonst in Sophias Fantasie herumspukte.
Während sie an ihrem Martini nippte und die Fotos weltbekannter Berühmtheiten studierte, fragte Stephen, ob sie ihren Lunch vielleicht in der Bar einnehmen sollten.
Sophia schüttelte den Kopf. „Ich würde lieber an unserem ersten Plan festhalten.“
„Gut, wir können auch ein anderes Mal hier essen.“
„Ich frage mich, ob Dad jemals hier war“, überlegte sie laut.
„Das ist gut möglich. Ich habe eine Reihe ausgezeichneter Bilder von Venedig in seiner Ausstellung entdeckt, also muss er die Stadt gut gekannt haben.“
„Sehr gut, vermute ich sogar.“
„Und, mochte er sie?“
„Er liebte Venedig …“
Stephen nahm Sophias Hände. „Dann wundert es mich, dass er nie mit dir hierhergekommen ist.“
„Er hat immer davon geschwärmt, dass wir eines Tages gemeinsam nach Venedig reisen würden, aber irgendwie kam es nie dazu. Wann immer wir Reisepläne schmiedeten, schlug ich Venedig vor, und seine Antwort lautete stets: viel leicht beim nächsten Mal.“
„Du hast erwähnt, dass deine Mutter aus Mestre stammt. Erzähl mir von ihr.“
„Da ich erst sieben war, als sie starb, kann ich mich kaum noch an sie erinnern. Alles, was ich über sie weiß, hat Dad mir erzählt.“ Unsicher schaute sie Stephen an, doch als er aufmunternd nickte, gab sie sich einen Ruck.
„Sie hieß Maria. Dad beschrieb sie als ein kostbares Püppchen aus Chinaporzellan – klein, zierlich, mit dunklen Haaren und Augen. Sie wuchs als Einzelkind auf, vermutlich, weil ihre Eltern bei ihrer Geburt bereits im mittleren Alter waren. Von Kindheit an litt sie unter rheumatischen Fieberschüben, die ihre Gesundheit derart schwächten, dass sie immer anfällig blieb.“
Da ihre Stimme zunehmend leiser geworden war, drückte Stephen tröstend Sophias
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