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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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hätte:
»Habe ich einen Stil?«
    Auf einmal war mir, als müßte ich
gleich in Tränen ausbrechen. Ich versuchte mit aller Kraft, liebevoll und gütig
zu sein, und teilte ihm bereitwillig mit, was ich über ihn dachte: »Du bist der
begabteste, wundervollste Illustrator mit dem feinsten Auge und der größten
Magie in den Händen. Auch wenn ich ein Werk vor mir sähe, das die Pinsel von
tausend Illustratoren berührt haben, so würde ich doch deinen Pinselstrich,
diese herrliche Gottesgabe, sofort herausfinden.«
    »So denke ich auch, aber du bist
nicht klug genug, um das Geheimnis meiner Kunstfertigkeiten zu verstehen«,
sagte er. »Du lügst jetzt, weil du dich vor mir fürchtest. Trotzdem, sprich
ruhig weiter über meine Methoden.«
    »Dein Pinselstrich, deine Linie
scheinen ihren Weg nicht durch deine Führung, sondern wie von selbst zu finden.
Was dein Pinsel zeigt, ist weder richtig noch spaßig! Wenn du eine Szene voller
Menschen zeichnest, dann wandelt sich die Spannung, die aus den Blicken, welche
die Menschen tauschen, aus der Komposition der Seite und der Bedeutung des
Textes hervorgeht, auf deinem Bild zu einem unaufhörlichen zarten Geflüster.
Ich betrachte deine Bilder immer wieder, um diesem Flüstern zu lauschen; und
jedesmal, wenn mein Auge dorthin zurückkehrt, bemerke ich, daß sich der Sinn
verändert hat, und versuche lächelnd, wie soll ich's sagen, das Bild gleich
einer Schrift aufs neue zu lesen. Reiht man die Bedeutungsschichten
hintereinander auf, ergeben sie auf diese Weise eine weiter reichende Tiefe als
die Perspektive der fränkischen Meister.«
    »Hm, gut. Laß die fränkischen Meister.
Rede weiter.«
    »Dein Pinselstrich ist wahrhaftig so
wunderbar, so kräftig, daß der Betrachter deines Bildes nicht der Welt draußen,
sondern derjenigen zu glauben vermag, die du gezeichnet hast. Und wie du mit
deinen Fähigkeiten sogar Menschen von ihrem Weg abbringen kannst, die fest im
Glauben stehen, so kannst du auch mit deinem Bild den absolut unbelehrbarsten
Ungläubigen auf den Weg zu Allah führen.«
    »Richtig, doch ich weiß nicht, ob es
lobenswert ist. Sprich weiter!«
    »Kein Buchmaler kennt die Geheimnisse,
die Konsistenz der Farben so wie du. Die von dir zubereiteten Farben leuchten
stets am hellsten, sind die echtesten und die lebendigsten.«
    »Gut. Weiter?«
    »Du weißt, daß du neben Behzat und
Mir Seyyid Ali der größte Illustrator bist.«
    »Richtig, ich weiß es. Und wenn du
es weißt, warum fertigst du das Buch nicht mit mir an, sondern mit Kara Efendi,
diesem Muster an Durchschnittlichkeit?«
    »Die Arbeit, die er ausführt,
erfordert nicht einmal die Fertigkeit eines Illustrators«, entgegnete ich. »Das
ist eins. Und zweitens ist er kein Mörder wie du.«
    Er lächelte mir liebenswürdig zu,
weil auch ich tolerant gelächelt hatte. Ich ahnte, daß ich mit dieser Haltung,
dieser Vorgehensweise den Alptraum abschütteln konnte. So vertieften wir uns,
nachdem ich das Thema aufgegriffen hatte, in eine angenehme Plauderei über das
mongolische Fäßchen in seiner Hand, und zwar nicht wie Vater und Sohn, sondern
wie zwei lebenserfahrene Greise. Wir sprachen über die Schwere der Bronze, die
Ausgewogenheit des Gefäßes, die Tiefe seines Halses, die Länge der alten
Kalligraphenrohre und das Geheimnis der roten Tinte, deren Konsistenz er
prüfte, während er vor mir stand und das Fäßchen sachte hin und her schwenkte
... Wir sprachen darüber, daß unsere Bilder hier in Istanbul niemals entstanden
wären, wenn die Mongolen nicht das Geheimnis der roten Farbe von den
chinesischen Meistern gelernt und nach Chorasan, Buchara und Herat gebracht
hätten. Während wir sprachen, schien auch die Zeit, so wie die Tinte, ihre
Konsistenz zu verändern, und es wurde später und später. Irgendwo in einem
Winkel meines Bewußtseins wunderte ich mich darüber, daß immer noch niemand
nach Hause gekommen war, und ich wünschte, er würde das schwere Gefäß endlich
niedersetzen.
    »Werden die Menschen nach der
Vollendung deines Buches mein Talent erkennen, wenn sie meine Malerei
betrachten?« fragte er unbefangen, im Vertrauen auf unsere alten
Arbeitsgewohnheiten.
    »Wenn wir dieses Buch hoffentlich
mit Allahs Hilfe eines Tages beenden, dann wird es unser hochgeschätzter
Padischah zur Hand nehmen und einmal durchsehen, zuerst natürlich aus dem Augenwinkel
prüfen, ob das Blattgold an der rechten Stelle verwendet wurde oder nicht, wird
sein eigenes Abbild betrachten, wie man ein Buch der

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