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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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meinte
er. »Ich kann es nicht verstehen.«
    Er klang so aufrichtig, daß ich ihm
vollkommen glaubte und einmal mehr ganz tief empfand, wie sehr ich ihn
eigentlich liebte, auch wenn wir, die Buchmaler, ihn mit Spott bedachten. Wie
er sofort erfaßte, daß mein Herz von Liebe und Achtung für ihn überquoll, und
wieder mein Haar mit jener väterlichen Zärtlichkeit streichelte, die so
unwiderstehlich war, blieb mit unbegreiflich. Ich spürte, daß die von den
großen alten Herater Künstlern inspirierte Malerei des Altmeisters Osman keine
Zukunft mehr hatte. Das war so ein häßlicher Gedanke, daß ich mich vor mir
selbst fürchtete. Wie es uns allen geht nach einer Katastrophe: Ohne darauf zu
achten, daß wir uns lächerlich machen und töricht dastehen, flehen wir mit
letzter Hoffnung darum, daß alles weitergehen möge wie bisher. So sagte ich:
»Laßt uns dennoch weitermachen mit den Bildern für unser Buch. Alles sollte so
weitergehen wie bisher.«
    »Es gibt einen Verbrecher unter den
Illustratoren. Ich werde Kara Efendi an dem Buch arbeiten lassen.«
    Wollte er mich reizen, damit ich ihn
umbrachte?
    »Wo ist denn Kara jetzt? Wo sind
Eure Tochter und ihre Kinder?« fragte ich ihn.
    Eine fremde Macht schien mir diese
Worte in den Mund gelegt zu haben, doch ich konnte nicht an mich halten. Von
nun an waren alle Wege zu Glück und Hoffnung für mich verschlossen. Ich konnte
nur noch klug und ironisch sein, und ich spürte hinter diesen beiden stets
liebenswerten Dämonen die Präsenz des sie beide, die Klugheit und die Ironie,
regierenden Teufels, der sich bei mir einschlich. Im gleichen Augenblick
begannen die verfluchten Hunde vor dem Hoftor wie wahnsinnig zu jaulen, als
hätten sie Blut gewittert.
    Hatte ich diesen Augenblick nicht
schon viele Jahre zuvor erlebt? In einer fernen Stadt, zu einer Zeit, die mir
nun längst vergangen schien, während es draußen schneite, ohne daß ich es sehen
konnte, war ich bemüht gewesen, einem Tattergreis, der mich im Schein der Kerze
des Farbendiebstahls beschuldigte, heulend meine Unschuld zu beteuern. Auch
damals hatten die Hunde draußen vor dem Hoftor zu jaulen begonnen, als hätten
sie Blut gewittert. Und gleich jenem zerknitterten, boshaften alten Kerl besaß
auch der Oheim Efendi ein vorstehendes Kinn, und wie bei dem Alten damals las
ich jetzt auch aus seinem gnadenlos starrenden Blick die Absicht, mich
fallenzulassen. Und wie mir diese scheußliche Reminiszenz an die Lehrzeit als
Zehnjähriger wie ein Bild in scharfen Konturen, doch blassen Farben vor Augen
stand, so erlebte ich diesen Augenblick als eine ebenso scharfe wie blasse
Erinnerung.
    So malte, während ich aufstand,
hinter dem Oheim Efendi herumging und auf dem Arbeitstisch unter den
vertrauten Gefäßen aus Glas, Porzellan und Kristall jenes neue, schwere
bronzene Tintenfäßchen zur Hand nahm, der fleißige Buchmaler in mir, dessen
Dasein wir dem Ersten Illustrator Altmeister Osman verdankten, alles, was ich
tat und sah, in scharfen Konturen und blassen Farben wie eine alte Erinnerung
und nicht wie etwas, was in diesem Augenblick geschah. Ist es nicht auch so,
wenn wir uns in unseren Träumen schaudernd von außen her betrachten? Ich hielt
das dickbauchige Gefäß mit dem engen Hals in der Hand und sagte, ebenso
schaudernd: »Ein solchen Fäßchen habe ich als zehnjähriger Lehrling gesehen.«
    »Es ist dreihundert Jahre alt und
ein mongolisches Tintenfäßchen«, erklärte der Oheim Efendi, »Kara hat es aus
Täbris mitgebracht. Man verwendet es nur fürs Rot.«
    Wer mich in jenem Augenblick reizte,
diesem selbstgerechten alten Trottel das Fäßchen mit aller Kraft über das
verwässerte Gehirn zu schlagen, war natürlich der Satan. Doch ich folgte ihm
nicht. Und sagte nur voll törichter Zuversicht: »Ich habe den Fein Efendi
getötet.«
    Ihr versteht doch, warum ich das
voller Zuversicht sagte, nicht wahr? Weil ich hoffte, der Oheim Efendi werde
mich verstehen und mir verzeihen. Und auch, er werde sich vor mir fürchten und
mir helfen.

29
  Ich bin euer Oheim
    Nach seinem Geständnis, er habe den Fein
Efendi getötet, blieb es lange still im Zimmer. Ich dachte, er wird auch mich
umbringen, und mein Herz schlug eine ganze Weile wie rasend. Warum war er
gekommen? Um mich zu töten, sich zu dem Mord zu bekennen oder um mich
einzuschüchtern? Wußte er selbst, was er wollte? Voller Schrecken begriff ich,
daß ich das Herz dieses fabelhaften Illustrators, dessen künstlerische
Fähigkeiten mir seit Jahren

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