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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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die
Treppe hinuntergestiegen und hätte Hayriye flüsternd gescholten, doch mir fiel
ein, daß die Lampe in meiner Hand die bei der eiligen Wischerei vielleicht auf
den nassen Stufen verbliebenen Blutstropfen beleuchten könnte, während ich
hinunterging. Die Kinder kamen polternd die Treppe herauf und zogen ihre Schuhe
aus.
    »Pst«, machte ich und schob sie hinüber
zu unserem Zimmer. »Euer Großvater schläft. Nicht da hinüber!«
    »Ich gehe zum Kohlenbecken im Zimmer
mit der blauen Tür«, erklärte Şevket. »Nicht in Großvaters Zimmer.«
    »Großvater ist dort eingeschlafen«,
flüsterte ich.
    Aber ich sah auch, daß sie plötzlich
zögerten. »Die bösen Geister, die in euren Großvater gefahren sind und ihn
krank machten, sollen euch nicht auch noch heimsuchen«, sagte ich. »Nun macht
schon, geht in euer Zimmer.« Ich nahm ihre Hände und zog sie in das Zimmer, wo
wir nachts engumschlungen schliefen. »Nun sagt schon, was habt ihr so lange
draußen auf der Straße, getrieben?« »Wir haben die arabischen Bettler gesehen«,
sagte Şevket. Ich fragte: »Wo? Hatten sie ihre Fahnen bei sich?« »Am
Hang. Sie gaben Hayriye eine Zitrone, und Hayriye gab ihnen Geld. Ihre Kleider
waren voller Schnee.« »Und weiter?« »Auf dem Platz hat man Bogenschießen
geübt.« »Bei dem Schnee?« fragte ich. »Mutter, ich friere«, sagte Şevket.
»Ich gehe ins Zimmer mit der blauen Tür.« »Ihr werdet diesen Raum nicht
verlassen«, erklärte ich. »Sonst werdet ihr sterben. Ich bringe euch jetzt das
Kohlenbecken.« »Warum sollten wir sterben?« wollte Şevket wissen. »Ich
werde euch etwas erzählen«, sagte ich »aber ihr werdet es niemandem
weitersagen, verstanden?« Sie versprachen es. »Während ihr auf der Straße wart,
kam ein ganz ausgebleichter, schneeweißer Mann hierher, aus einem Land in
weiter Ferne, und redete mit eurem Großvater. In Wirklichkeit aber ist er ein
böser Geist gewesen.« Sie wollten wissen, woher der Geist gekommen war. »Vom
anderen Ufer des Flusses«, erklärte ich. »Von dort, wo mein Vater ist?« fragte Şevket.
»Ja, von dorther«, antwortete ich. »Der Geist ist gekommen, um sich die Bilder
in den Büchern eures Großvaters anzuschauen. Der Sünder, der diese Bilder
anschaut, stirbt auf der Stelle, heißt es.«
    Es wurde still.
    Ich sagte: »Hört mal, ich gehe nach
unten zu Hayriye. Ich werde das Kohlenbecken herbringen und auch das Tablett
mit dem Essen. Geht mir ja nicht aus dem Zimmer! Ihr sterbt sonst. Der böse Geist
ist noch immer im Haus.«
    »Mutter, Mutter, geh nicht!« bat
Orhan.
    Ich wandte mich zu Şevket um
und sagte: »Du hast die Verantwortung für deinen Bruder. Wenn ihr hinausgeht,
werde ich euch umbringen, falls euch der Geist nicht erwischen sollte!« Dabei
machte ich ein böses Gesicht, wie dann, wenn es Ohrfeigen setzte. »Jetzt betet,
daß euer kranker Großvater nicht stirbt. Wenn ihr lieb seid, wird Allah euch
erhören. Niemand wird euch belästigen.« Sie begannen ohne allzu großen Eifer zu
beten. Ich ging nach unten.
    »Jemand hat die Pomeranzenmarmelade
umgekippt«, sagte Hayriye. »Die Katze ist nicht stark genug dafür, und ein
Hund kann nicht herein ...«
    Plötzlich erkannte sie das Entsetzen
auf meinem Gesicht und hielt inne: »Meine Güte! Was ist geschehen? Ist deinem
Herrn Vater etwas zugestoßen?«
    »Er ist tot.«
    Ein Aufschrei. Ihre Hand, die das
Messer und eine Zwiebel hielt, schlug so hart auf das Brett, daß der
aufgeschnittene Kefal hochhüpfte. Sie schrie noch einmal. Wir sahen beide
zugleich das Blut an ihrer linken Hand, das nicht von dem Fisch stammte,
sondern aus einem Schnitt an ihrem Zeigefinger herabtropfte, den sie sich beim
ersten Aufschrei zugezogen hatte. Ich lief nach oben und hörte Geschrei und
Lärm im Zimmer der Kinder, während ich im Raum gegenüber nach einem Stück
Musselin suchte. Ich betrat das Zimmer, den Stoffetzen in der Hand. Şevket
hatte Orhan überwältigt, preßte die Knie auf dessen Schultern und erstickte ihn
fast.
    »Was macht ihr da?« schrie ich aus
vollem Hals.
    »Orhan wollte aus dem Zimmer gehen«,
erklärte Şevket.
    »Gelogen!« empörte sich Orhan. »Şevket
hat die Tür aufgemacht und ich hab gesagt, geh nicht raus.« Er begann zu
weinen.
    »Wenn ihr nicht ruhig sitzen bleibt,
bring ich euch beide um!«
    »Mutter, geh nicht!« bettelte
Orhan.
    Mit einem Verband um Hayriyes Finger
stillten wir unten in der Küche das Blut. Als ich sagte, mein Vater sei nicht
eines natürlichen Todes gestorben, begann

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