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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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sie voller Furcht Allah um Schutz
anzuflehen, schaute auf ihren verletzten Finger und weinte. Liebte sie meinen
Vater in dem Maße, wie sie weinte, oder weinte sie in dem Maße, wie sie ihn
liebte? Sie wollte nach oben gehen, um meinen Vater zu sehen.
    »Er ist nicht oben«, sagte ich,
»sondern im Hinterzimmer.«
    Sie blickte mich zweifelnd an. Doch
als sie begriff, daß es mir schwerfallen würde, die Leiche noch einmal zu
sehen, konnte sie ihre Neugier und ihr Verlangen, sich zu fürchten, nicht mehr
bezähmen. Sie nahm die Lampe und ging hinüber. Von meinem Standort am Eingang
der Küche aus konnte ich sehen, wie sie vier, fünf Schritte durch die geflieste
Halle machte, respektvoll und ängstlich die Tür des Zimmers aufschob und im
Licht der Lampe das entsetzliche Durcheinander betrachtete. Sie konnte Vater
nicht sofort sehen, hielt die Lampe höher und versuchte, die Ecken des großen
Raumes zu beleuchten.
    »Ach!« schrie sie dann. Sie hatte
meinen Vater gleich neben der Tür entdeckt, so wie ich ihn zurückgelassen
hatte. Ohne sich zu rühren, schaute sie auf Vater hinunter. Ihr Schatten auf den
Steinfliesen und auf der Stallwand rührte sich nicht. Ich stellte mir vor, was
sie sah, während sie hinschaute. Als sie zurückkam, weinte sie nicht. Ich war
froh, sie so weit gefaßt zu sehen, daß sich, was ich ihr nun zu sagen hatte, in
ihrem Verstand zur Genüge festsetzen würde.
    »Hör mir jetzt zu, Hayriye«, sprach
ich und schwang dabei das Fischmesser in der Hand, das ich unwillkürlich
ergriffen hatte. »Auch oben ist alles wüst durcheinandergeworfen, das
teuflische Scheusal ist auch dort eingedrungen und hat alles zerbrochen und
verstreut, hat jede Ecke abgesucht. Dort ist wohl auch meinem Vater der
Schädel eingeschlagen worden, dort muß er getötet worden sein. Ich habe ihn
heruntergebracht, damit die Kinder ihn nicht sahen und du dich nicht gleich fürchtetest.
Nach euch bin auch ich aus dem Haus gegangen. Mein Vater ist allein
hiergewesen.«
    »Das wußte ich nicht«, erklärte sie
spitz. »Wo warst du denn?«
    Ich schwieg eine Weile und wollte,
daß sie mein Schweigen so richtig wahrnahm. Dann sagte ich: »Mit Kara zusammen.
Wir haben uns im Haus des gehenkten Juden getroffen. Das wirst du aber
niemandem erzählen. Und vorläufig auch zu keinem ein Wort davon, daß mein
Vater umgebracht wurde!«
    »Wer hat ihn umgebracht?«
    War sie wirklich so dumm, oder tat
sie nur so, um mich in die Enge zu treiben?
    Ich sagte: »Wenn ich das wüßte,
würde ich seinen Tod nicht verheimlichen. Ich weiß es nicht. Weißt du es?«
    »Woher soll ich das wissen?«
erwiderte sie. »Was tun wir jetzt?«
    »Du tust, als sei nichts geschehen«,
erklärte ich und hätte am liebsten laut herausgeschrien und geweint, doch ich
blieb still. Wir schwiegen beide eine Zeitlang.
    Nach längerer Zeit sagte ich: »Laß
jetzt den Fisch. Mach das Abendessen für die Kinder zurecht.«
    Als sie dann zu jammern und zu
weinen begann, nahm ich sie in die Arme, und wir hielten uns gegenseitig fest
umschlungen. Plötzlich bedauerte ich nicht nur mich und die Kinder, sondern
uns alle zusammen, und mochte sie. Andererseits regte sich der Wurm des
Mißtrauens in mir, während ich sie umarmte. Ihr wißt, wo ich gewesen bin, als
mein Vater ermordet wurde. Ihr wißt auch, daß ich Hayriye und die Kinder aus
dem Haus geschickt, dies jedoch in einer ganz anderen Absicht getan habe, und
daß sich dabei die Zufälle häuften – aber weiß Hayriye das? Versteht sie das,
wenn ich es ihr erkläre, wird sie das begreifen? Sie wird es sowohl begreifen
als auch argwöhnisch werden. Ich umarmte sie noch fester; doch als ich mir
vorstellte, sie würde in ihrem Sklavenverstand denken, ich täte dies, um meine
List zu verschleiern, fühlte ich mich wie jemand, der ihr etwas vormachen
wollte. Ich hatte mich mit Kara getroffen und mit ihm Liebesspiele getrieben,
während hier mein Vater umgebracht wurde. Wenn nur Hayriye zu diesem Schluß
käme, dann hätte ich nicht so starke Schuldgefühle, aber ich weiß, daß auch ihr
so denkt. Mehr noch, gebt's nur zu, ihr meint, ich verberge etwas vor euch.
Was bin ich doch für ein bedauernswertes Wesen! Und wie sehr vom Mißgeschick
verfolgt! Als ich daraufhin zu weinen begann, weinte auch Hayriye, und wir
umarmten uns wieder.
    Ich tat so, als äße ich von den
Speisen, die oben im Zimmer aufgedeckt worden waren. Zwischendurch stand ich
unter dem Vorwand auf, ich müsse nach dem Großvater sehen, ging hinüber

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