Pamuk, Orhan
wenn ihr nicht gehorcht! Vor Karas Hand
wird euch der Großvater dann nicht mehr schützen, wie er euch vor meiner Hand
beschützt hat. Wenn ihr nicht den Zorn eures Vaters auf euch lenken wollt,
werdet ihr keinen Streit mehr anfangen, werdet alles miteinander teilen, euer
Gebet sprechen, nicht einschlafen, bevor ihr eure Abschnitte auswendig könnt,
Hayriye kein freches Wort mehr sagen und euch nicht über sie lustig machen ...
Habt ihr verstanden?«
Kara bückte sich und nahm Orhan mit
einem Schwung auf den Arm, doch Şevket hielt sich fern. Auf einmal war
mir, als müsse ich ihn umarmen und weinen. Mein armes unschuldiges Waisenkind,
mein armer kleiner verwaister Şevket, was für ein einsam Ding bist du in
dieser riesengroßen Welt! Ich sah mich selbst für einen Augenblick als ein
kleines Kind wie Şevket, allein auf der Welt, und als sich Şevkets
bedauernswerte Winzigkeit plötzlich in meinem Verstand mit meiner eigenen
Winzigkeit vermischte, überlief es mich kalt. Denn ich dachte an meine Kindheit
zurück und daß ich einst wie Orhan jetzt in den Armen meines Väterchens gelegen
hatte, doch nicht so widerwillig wie er, einem Apfel am Birnbaum gleichend,
sondern mit Vergnügen, und ich erinnerte mich daran, daß wir uns engumschlungen
und immer wieder wie die Hunde einer des anderen Haut beschnuppert hatten. Ich
war nahe daran zu weinen, hielt aber an mich und sagte ganz spontan: »Nur zu,
sagt ›Vater‹ zu Kara!«
Wie kalt war die Nacht, wie still
unser Hof! Weit entfernt bellten die Hunde unruhig und kummervoll. Ein wenig
mehr Zeit verging, unmerklich ging das Schweigen wie eine dunkle Blume auf und
breitete sich aus.
»Nun gut, Kinder«, sagte ich lange
danach. »Laßt uns zusammen ins Haus gehen, damit wir hier nicht frieren.«
Nicht nur Kara und ich zögerten wie
Braut und Bräutigam aus Angst vor dem Alleinsein nach der Hochzeit, wir alle,
auch Hayriye und die Kinder, betraten das dunkle Heim furchtsam und zurückhaltend
wie das eines Fremden. Der Geruch von Vaters Leiche hing im Haus, doch niemand
schien ihn zu spüren. Während wir leise die Treppe hinaufgingen, mischten sich
unsere Schatten, welche die Kerzen an die Wände warfen, wie immer miteinander,
wurden einmal größer, einmal kleiner, doch mir kam es vor, als geschehe es das
erstemal. Als wir oben auf dem Flur unsere Schuhe auszogen, fragte Şevket:
»Soll ich vor dem Schlafengehen Großvater die Hand küssen?«
»Ich habe vorhin nachgesehen«,
erklärte Hayriye. »Dein Großvater hat große Schmerzen, es geht ihm sehr
schlecht, und die bösen Geister haben sich so richtig in ihm festgesetzt; er
ist ganz und gar vom schweren Fieber befallen. Geht in euer Zimmer, ich werde
eure Betten richten.«
Und schon hatte sie die beiden ins
Zimmer geschoben. Während sie das Bettzeug hinlegte, die Laken entfaltete und
die Steppdecke darüberbreitete, sprach sie über alles, was sie zur Hand nahm,
als sei es ein unvergleichliches Wunder, als sei es, wie im Saray eines
Padischahs zu schlafen, wenn man sich heute hier um Mitternacht in diesem
warmen Zimmer zwischen den reinen Laken und unter der warmen, daunengefüllten
Steppdecke ausstreckte.
»Erzähl uns eine Geschichte,
Hayriye«, bat Orhan, auf seinem Töpfchen sitzend.
»Es gab einmal einen blauen Mann«,
begann Hayriye. »Und der hatte einen Geist als besten Freund.«
»Warum war der Mann blau?« fragte
Orhan.
»Um Himmels willen, Hayriye«, rief
ich. »Erzähl wenigstens heute abend keine Geschichten von bösen Geistern, Feen
oder Gespenstern!«
»Warum soll sie das nicht erzählen?«
wollte Şevket wissen. »Wirst du aufstehen, Mutter, wenn wir eingeschlafen
sind, und zu Großvater gehen?«
»Euer Großvater – Allah schütze ihn! – ist schwer krank«, sagte ich. »Natürlich werde ich nachts nach ihm sehen.
Dann komme ich wieder zurück in unser Bett.«
»Soll doch Hayriye zu Großvater
gehen«, meinte Şevket. »Paßt nicht Hayriye nachts auf Großvater auf?«
»Bist du fertig?« fragte Hayriye
Orhan, auf dessen Gesicht ein verträumter Ausdruck lag. Während sie ihm den Po
mit einem Lappen abwischte, warf sie einen Blick auf den Inhalt des Nachtgeschirrs
und verzog das Gesicht, doch anscheinend nicht, weil es roch, sondern weil ihr
nicht ausreichend erschien, was sie sah.
»Hayriye«, sagte ich, »leer den Topf
aus, und bring ihn zurück. Şevket soll nachts das Zimmer nicht
verlassen.«
»Warum darf ich nicht aus dem
Zimmer?« fragte Şevket. »Warum soll Hayriye keine
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