Pamuk, Orhan
den Flur sickerte, sah ich mit
Schaudern, daß die Tür zu Vaters Zimmer halb offen stand. Ich trat hinaus auf
den Flur. Die Leiche roch, weil das Kohlenbecken im Zimmer noch glühte. War Şevket
hierhergekommen oder jemand anderes? Vaters sterblichen Reste ruhten, von
seinem Nachthemd umhüllt, friedlich im ungewissen Schein des Kohlenbeckens auf
dem Lager. Mir kam in den Sinn, wie ich ihm in manchen Nächten, wenn er das Kitab-ur
Ruh las, vor dem Schlafengehen »Gute Nacht, Väterchen!« gewünscht hatte.
Dann hatte er mir das Glas aus der Hand genommen, es ein wenig mehr angehoben
und gesagt: »Wer Wasser reicht, dem soll's an nichts fehlen, meine Schöne!«,
mich wie stets seit meiner Kindheit auf die Wangen geküßt und mir aus der Nähe
in die Augen geblickt. Jetzt schaute ich in sein grauenvolles Gesicht und
fürchtete mich. Einerseits wollte ich es nicht ansehen, aber gleichzeitig
schien mich der Teufel zu reizen, so daß ich dennoch sehen wollte, wie
abschreckend es geworden war.
So ging ich angsterfüllt zurück in
das Zimmer hinter der blauen Tür, wo Kara über mich herfiel. Ich stieß ihn
fort, aber eigentlich mehr unbewußt als zornig. Wir rangen miteinander im
flackernden Kerzenlicht, doch war es kaum ein echtes Ringen, sondern eher ein
Simulieren. Wir genossen es, einander anzustoßen, den Arm, das Bein, die Brust
zu berühren. Der Tumult in meinem Kopf aber glich jenem Zustand der Seele, den
Nizami bei Hüsrev und Şirin beschreibt. Ob Kara, der Nizami viel gelesen
hatte, wohl spürte, daß ich ebenso wie Şirin, die sagte: »Quäle mich
nicht, küß nicht meine Lippen, tu's nicht!«, eigentlich »Tu es!« meinte?
»Ich werde nicht das Bett mit dir
teilen, bis dieser Satanskerl gefunden, der Mörder meines Vaters entlarvt
worden ist!« sagte ich.
Ich schämte mich, während ich
fluchtartig das Zimmer verließ, denn ich hatte wohl absichtlich so laut
gerufen, weil Hayriye und die Kinder meine Worte hören sollten. Obendrein
schien es, als sollten nicht nur sie mein Geschrei vernehmen, sondern auch
mein armer Vater und mein seliger Ehemann, dessen Leiche in wer weiß welcher
unbekannten Erde längst verwest und zu Staub zerfallen war.
Sowie ich zu den Kindern kam,
erklärte Orhan: »Mutter, Şevket ist auf den Flur gegangen.«
»Warst du draußen?« fragte ich und
wollte ihm eine Ohrfeige geben.
»Hayriye«, rief Şevket und warf
sich ihr in die Arme.
»Er ist nicht rausgegangen, war
immer im Zimmer«, sagte Hayriye.
Ich schauderte plötzlich und konnte
ihr nicht in die Augen sehen. Mir wurde klar, daß sich meine Kinder, wenn der
Tod meines Vaters erst einmal bekanntgeworden war, zu Hayriye flüchten und ihre
Geheimnisse von nun an mit ihr teilen würden, um meinem Zorn zu entgehen, und
daß die gemeine Sklavin die Gelegenheit wahrnehmen und versuchen würde, mich
zu beherrschen. Sie wird mir auch die Schuld für den Mord an meinem Vater
zuschieben wollen und versuchen, die Vormundschaft der Kinder auf Hasan übertragen
zu lassen! Ja, das wird sie tun! Und so unverschämt ist sie nur, weil sie zu
Vater ins Bett gekrochen ist! Was gibt's da jetzt noch vor euch zu verbergen – natürlich hat sie's getan! Ich schenkte ihr mein süßestes Lächeln, dann nahm
ich Şevket auf den Schoß und küßte ihn.
»Und ich sage, Şevket ist auf
den Flur hinausgegangen«, betonte Orhan.
»Schlüpft in euer Bett, nehmt mich
in die Mitte, und ich werde euch die Geschichte vom schwanzlosen Schakal und
dem bösen schwarzen Geist erzählen.«
»Aber du hast doch zu Hayriye
gesagt, sie soll keine Geistergeschichten erzählen«, meinte Şevket.
»Warum darf Hayriye heute nacht nicht erzählen?«
»Werden sie auch durch die Stadt der
Waisen kommen?« wollte Orhan wissen.
»Ja, sie werden dort durchkommen«,
antwortete ich. »Kein Kind in dieser Stadt hat Eltern und wird auch nie welche
haben. Hayriye, geh hinunter und schau noch einmal nach allen Türen. Wir werden
wohl mitten in der Geschichte einschlafen.«
»Ich nicht«, sagte Orhan.
»Wo wird Kara heute nacht schlafen?«
fragte Şevket.
»In der Werkstube«, sagte ich.
»Schmiegt euch nur recht an eure Mutter an, damit wir schön warm werden unter
der Decke. Wer von euch hat denn so eiskalte Füße?«
»Ich«, sagte Şevket. »Wo wird
Hayriye schlafen?«
Als Orhan kurz nachdem ich die
Geschichte begonnen hatte, wie immer als erster vom Schlaf übermannt wurde,
senkte ich meine Stimme.
»Du wirst doch nicht wieder
aufstehen, wenn ich eingeschlafen bin,
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