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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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Geschichten mit bösen
Geistern und Feen erzählen?«
    »Weil es böse Geister im Haus gibt,
Dummkopf!« meinte Orhan mit dieser dümmlichen Zuversicht, die ich stets auf
seinem Gesicht sah, wenn er sein Geschäft machte, kaum aber, wenn er sich
fürchtete.
    »Mutter, gibt es welche?«
    »Wenn ihr aus dem Zimmer geht, weil
ihr nach Großvater sehen wollt, dann erwischt euch der böse Geist.«
    »Wo wird Kara sein Bett
aufschlagen?« fragte Şevket. »Wo wird er heute nacht schlafen?«
    »Weiß ich nicht. Hayriye wird ihm
das Bett aufschlagen«, erklärte ich.
    »Du wirst doch wieder bei uns
schlafen, Mutter, nicht wahr?« fragte Şevket.
    »Wie oft soll ich's denn noch sagen!
Ich werde wie bisher bei euch schlafen.«
    »Immer?«
    Hayriye ging hinaus, den Nachttopf
in der Hand. Ich holte die restlichen neun Bilder, die der üble Mordbube bis
auf das gestohlene Bild zurückgelassen hatte, aus ihrem Versteck im Schrank
hervor, setzte mich auf das Bett und betrachtete sie lange beim Licht der
Lampe, um das darin verborgene Geheimnis zu ergründen. Sie waren etwas so
Schönes, diese Bilder, daß man sie wie seine eigenen in Vergessenheit geratenen
Erinnerungen betrachten konnte, und je länger man sie anschaute, desto
deutlicher sprachen die Bilder zu ihrem Betrachter, genauso wie etwas
Geschriebenes.
    Ich war wohl ganz in den Anblick der
Bilder versunken gewesen. Daß auch Orhan mit mir zusammen das seltsame,
zweifelhafte Rot betrachtete, merkte ich an dem Duft seines hübschen, an meiner
Nase lehnenden Kopfes. Wie so manches andere Mal wollte ich plötzlich meine
Brust entblößen und ihn stillen. Als ihm dann das entsetzliche Abbild des Todes
Angst einjagte und er so niedlich den Atem zwischen den roten Lippen einzog, da
hätte ich Orhan auf einmal verspeisen mögen.
    »Ich werde dich essen, hast du
gehört?«
    »Kitzle mich, Mutter«, sagte er und
warf sich hin.
    »Steh sofort auf, du Rindvieh!«
schrie ich und gab ihm eine Ohrfeige, denn er hatte sich auf die Bilder
geworfen. Doch ich sah, daß ihnen nichts geschehen war, nur das oberste Pferd
war ein wenig zerknittert, aber nicht besonders auffällig.
    Als Hayriye mit dem leeren Nachttopf
zurückkam, sammelte ich die Bilder auf. Ich wollte das Zimmer verlassen, doch Şevket
rief aufgeregt: »Wohin, Mutter, wohin gehst du?«
    »Bin gleich wieder da.«
    Ich ging über den eiskalten Flur.
Kara saß dem leeren Sitzkissen meines Vaters gegenüber auf demselben Platz in
der Ecke, in der er vier Tage lang gesessen und mit meinem Vater über die
Malerei, die Illustration und die Perspektive gesprochen hatte. Ich legte die
Bilder auf den Buchständer vor ihm, auf das Sitzkissen und auf den Boden. Ganz
plötzlich hatte sich Farbe im Zimmer ausgebreitet beim Schein der Kerze, dazu
ein Licht, etwas wie Wärme und eine staunenswerte Lebendigkeit, und alles
schien sich zu bewegen.
    Lange betrachteten wir die Bilder schweigend,
ehrfurchtsvoll und ohne uns zu rühren. Wenn wir uns nur leicht bewegten, ließ
die Luft, die der Todeshauch aus dem gegenüberliegenden Zimmer hertrug, die
Kerze flackern, so daß sich die rätselhaften Bilder meines Vaters zu regen
schienen. Maß ich den Bildern einen so großen Wert bei, weil sie der Grund für
den Mord an meinem Vater waren? Hatte mich die Seltsamkeit jenes Pferdes, die
Unvergleichbarkeit der Farbe Rot, die Trauer des Baumes, die Trübsal jener
beiden Toren in Bann geschlagen, oder war es die Furcht vor dem Mörder, der
ihretwegen meinen Vater und noch andere Menschen umgebracht hatte? Nach einer
Weile wußten Kara und ich nur zu genau, daß wir nicht nur der Bilder wegen
schwiegen, sondern gleichermaßen, weil wir in unserer Hochzeitsnacht in einem
Raum allein geblieben waren, und so verspürten wir beide den Wunsch zu
sprechen.
    »Wenn wir morgens aufstehen, muß
endlich jeder erfahren, daß mein armes Väterchen im Schlaf dahingegangen ist«,
erklärte ich. Wie sehr meine Worte auch am Platze waren, so schienen sie doch
ohne Überzeugung gesprochen zu sein.
    »Morgen früh wird alles gut werden«,
sagte Kara mit dem gleichen seltsamen Unterton, ohne Überzeugung, obwohl er
das Richtige sagte.
    Als er eine unmerkliche Bewegung
machte, als wolle er mir näher kommen, hätte ich ihn am liebsten umarmt und
seinen Kopf in meine Hände genommen, wie ich es mit meinen Kindern tat.
    Im gleichen Augenblick hörte ich die
Tür zu Vaters Zimmer aufgehen, sprang von meinem Platz hoch, lief zur Tür und
schaute hinaus: In dem Lichtschein, der auf

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