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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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hastig
aufrafften und so taten, als würden sie ihre Gesichter verschleiern, mich aber
unterdessen mit den Augen maßen und ausführlich musterten.
    Kurz nach dem Abendgebet und lange
nachdem sie das Essen verzehrt, den Walnüssen, Mandeln, Obstfladen, Lutschbonbons
und dem Nelkenzucker gut zugesprochen hatte, zerstreute sich die Hochzeitsgesellschaft.
Şeküres wiederholte Tränenausbrüche sowie die Launen und die
Streitigkeiten ihrer Kinder hatten die Fröhlichkeit im Zimmer der Frauen
vertrieben; was uns, die Männer unter sich, betraf, so wurde es als Kummer über
die Krankheit meines Schwiegervaters gedeutet, daß ich über die Scherze, die
der Hochzeitsnacht des Nachbarn galten, nicht im geringsten lachte und mich in
trauriges Schweigen hüllte. Eines aber grub sich unter all diesen unangenehmen
Dingen am tiefsten in mein Gedächtnis ein: Als wir, damit Şeküre seine
Hand küßte, vor dem Essen das Zimmer des Oheims betraten und dort allein
blieben, küßten wir zusammen beide die kalte, steife Hand des Toten mit aufrichtiger
Ehrfurcht, dann zogen wir uns in eine dunkle Zimmerecke zurück und tauschten
Küsse wie zwei Verdurstende. Es gelang mir, die warme Zunge meiner Frau in
meinen Mund zu ziehen, und sie schmeckte nach den Lutschbonbons, die sich die
Kinder unaufhörlich einverleibten.

34
  Ich, Şeküre
    Als die letzten Gäste unserer traurigen
Hochzeitsfeier ihre Schuhe angezogen, Überkleider und Schleier angelegt und
ihre Kinder, die noch einen letzten Lutschbonbon in sich hineinstopften, mit
sich gezerrt und den Hof durch das Tor verlassen hatten, herrschte lange Zeit
Stille. Wir standen alle zusammen im Hof, und außer dem Tschilpen eines
Spatzen, der vorsichtig aus dem halbvollen Eimer am Brunnen trank, war kein
Laut zu hören. Als auch der Vogel, dessen Federchen auf dem kleinen Kopf im
Feuerschein des Herdes leuchteten, plötzlich in der Dunkelheit verschwand,
wurde mir schmerzlich bewußt, daß mein Vater in unserem leeren, gleichsam von
der Nacht aufgenommenen Haus oben tot auf seinem Bett lag.
    »Kinder, kommt einmal her«, sagte
ich dann zu Şevket und Orhan in einem Ton, den ich, wie sie wußten, bei
wichtigen Erklärungen anschlug.
    Sie kamen angelaufen.
    »Von nun an ist Kara euer Vater.
Küßt ihm die Hand.«
    Sie taten es, still und artig. »Da
meine unglücklichen Waisenkinder ohne Vater aufgewachsen sind, wissen sie
nicht, wie man einem Vater gehorcht, wie man ihm zuhört und dabei in die Augen
schaut und wie man einem Vater vertraut«, sagte ich zu Kara. »Ich weiß, daß du,
falls sie dir keine Achtung erweisen, ungebärdig, taktlos oder kindisch sind,
zuerst Nachsicht mit ihnen haben und es darauf zurückführen wirst, daß sie groß
geworden sind, ohne ihren Vater richtig gekannt zu haben, ohne sich an ihn zu
erinnern.«
    »Ich erinnere mich an meinen Vater«,
sagte Şevket.
    »Pst, hör zu«, sagte ich. »Von jetzt
an gilt Karas Wort für euch mehr als das meine.« Ich wandte mich Kara zu. »Wenn
sie nicht auf dich hören, respektlos sind, das leiseste Zeichen von Aufsässigkeit,
Verwöhntsein oder Unhöflichkeit geben, dann verwarne sie, doch vergib ihnen«,
sagte ich und verzichtete darauf, die Schläge zu erwähnen, die mir eigentlich
noch auf der Zunge lagen. »Wo ich in deinem Herzen meinen Platz habe, da soll
auch der ihre sein.«
    »Frau Şeküre«, sagte Kara, »ich
habe dich nicht nur geheiratet, um dein Ehemann, sondern auch um der Vater
dieser liebenswerten, verwaisten Kinder zu sein.«
    »Habt ihr's gehört?«
    »Allah, o Herr, laß stets Dein Licht
über uns leuchten«, ließ sich Hayriye von einer Ecke her hören. »Beschütze uns,
Allah, mein Herr!«
    »Ihr habt's gehört, nicht wahr?«
fragte ich. »Fein, meine guten Kinder! Euer Vater wird euch in seiner Liebe
zuerst einmal vergeben, auch wenn ihr nachlässig seid und nicht auf sein Wort
hört.«
    »Ich werde auch später vergeben«,
erklärte Kara.
    »Wenn sie aber zum drittenmal tun,
was du ihnen untersagt hast – dann habt ihr Hiebe verdient!« sagte ich. »Habt
ihr verstanden? Kara, euer Vater, hat die Geißel Allahs, die Kriege, in die
euer seliger Vater zog, ohne wiederzukehren, die übelsten, die schlimmsten der
schlimmen Kämpfe überstanden, er ist sehr zäh geworden. Der Großvater hat sie
verwöhnt, hat ihnen alles durchgehen lassen. Doch der ist jetzt schwer krank.«
    »Ich möchte zu Großvater gehen«,
sagte Şevket.
    »Kaya wird euch deutlich beibringen,
daß die Hiebe aus dem Paradies stammen,

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