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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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Agha und des Obersten der Gartengarde bewies allen die von Herzen kommende
Trauer unseres hochverehrten Padischahs über meinen Tod. Ob dies nun bedeutet,
daß man sich um das Auffinden des gemeinen Kerls, meines Mörders, bemühen
würde und die Folterer Arbeit bekämen, weiß ich nicht. Doch ich sehe diesen
Ruchlosen jetzt bei den anderen Illustratoren und Kalligraphen im Hof stehen
und mit einem äußerst würdigen und schmerzlichen Ausdruck auf dem Gesicht zu
meinem Sarg herüberschauen.
    Ihr sollt nicht glauben, daß ich
meinem Mörder zürne, auf Rache sinne, ja daß meine Seele friedlos sei, weil ich
hinterhältig und grausam ermordet worden bin. Ich befinde mich jetzt in einer
ganz anderen Sphäre, und meine Seele hat nach den langen, qualvollen
Erdenjahren zu sich selbst und damit Ruhe und Frieden gefunden.
    Sie verließ nach den Schlägen mit
dem Tintenfäßchen vorübergehend meinen blutbesudelten, schmerzgeplagten Leib
und zitterte eine Weile im Licht. Dann erschienen, wie ich es so oft im Kitab-ur
Ruh gelesen hatte, zwei lächelnde Engel mit sonnenglänzendem Antlitz in
dieser schönen Helle, kamen langsam auf mich zu, faßten mich bei den Händen und
zogen mich in die Höhe, als sei ich nicht nur eine Seele, sondern noch immer
ein Leib. Und wie ruhig und weich und wie rasch wir in die Höhe glitten – ganz
so wie in glücklichen Träumen! Wir durchquerten Wälder aus Flammen, überwanden
Ströme aus Licht, Meere aus Finsternis, stiegen über Gebirge aus Schnee und
Eis. Das alles währte Tausende von Jahren, doch für mich war es so kurz wie ein
Lidschlag.
    Auf diese Weise durchstreiften wir
die sieben Stufen des Himmels zwischen Wolken und Sümpfen, in denen es nur so
wimmelte von Gemeinschaften aller Art, seltsamen Lebewesen, unbeschreiblich
vielen Insekten und Vögeln. Auf jeder Himmelsstufe pochte einer der
vorangehenden Engel an eine Tür, und wenn er auf die Frage: »Wer da?« mich mit
all meinen Namen und Attributen beschrieben hatte und dann noch hinzusetzte:
»Ein guter Knecht Allahs, des Allmächtigen«, dann liefen mir die Freudentränen
aus den Augen, doch ich wußte zugleich, daß vielleicht noch Tausende von Jahren
bis zum Jüngsten Tag und der endgültigen Scheidung in Himmel und Hölle vergehen
würden.
    Denn mit kleinen Abweichungen begab
sich alles so, wie es Gazzali, Al-Dschauzijja und andere Gelehrte in ihren
Schriften beschrieben hatten, die dem Sterben gewidmet sind. Die in den Büchern
wie unlösbar erscheinenden oder als dunkles Rätsel belassenen Dinge, die nur
der Sterbende erfahren kann, wurden nunmehr ganz plötzlich eins nach dem
anderen von tausendfarbigem Licht erhellt.
    Wie soll man die Farben schildern,
die ich während dieses herrlichen Aufstiegs erblickte? Das Universum bestand
aus Farben, wie ich erkannte, und alle Dinge waren Farbe. Und wie ich fühlte,
daß die Kraft, die mich von allen anderen Dingen schied, aus Farben gemacht
war, so begriff ich auch, daß jenes mich jetzt liebevoll umfangende und an das
ganze Universum bindende Etwas Farbe war. Ich sah pomeranzenfarbige Himmel,
Leiber in schönem Blattgrün, braune Eier, himmelblaue Sagenpferde. Alles war
wie in den Büchern und Legenden, die ich voller Liebe so viele Jahre
betrachtet und studiert hatte, und aus diesem Grund sah ich alles mit Staunen
und Bewunderung, als wär's zum erstenmal, doch schien auch, was ich sah, auf
irgendeine Weise meinen Erinnerungen zu entspringen. Was ich Erinnerung
nannte, war Teil eines ganzen Universums, wie ich begriff, und dieses ganze
Universum würde, weil sich die Zeit vor mir ins Unendliche dehnte, in Zukunft
zuerst meine Erfahrung und dann meine Erinnerung sein. Ich verstand auch, warum
ich so erleichtert war, als sei ich einem zu knappen Hemd entschlüpft, während
ich starb in diesem Farbenrausch: Von jetzt an war mir nichts mehr untersagt,
unbegrenzt waren Frist und Ort für mich, so daß ich alle Zeiten und Räume
erleben konnte.
    Sowie ich das erfaßt hatte, ahnte
ich glücklich und bangend, daß ich Ihm nahe war. Im gleichen Augenblick
gewahrte ich in tiefer Demut die Anwesenheit einer gänzlich unvergleichbaren
roten Farbe.
    In kurzer Zeit wurde alles
ringsumher tiefrot. Die Schönheit dieser Farbe überkam auf einmal mein Inneres
und das ganze Universum. Ich wollte vor Freude weinen, während ich Seinem
Wesen immer näher kam. Doch ich schämte mich, so plötzlich und so
blutüberströmt vor Ihn hinzutreten. Ein anderer Teil meines Verstandes wieder
sagte mir, wie

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