Pamuk, Orhan
ich's aus den Büchern über den Tod wußte, daß Er Azrail und die
anderen Engel gesandt und mich zu sich gerufen hatte.
Würde ich Ihn schauen dürfen? Die
Aufregung verschlug mir den Atem.
Das näher kommende Rot bedeckte
alles und ließ alle Erscheinungen des Universums in sich spielen, es war so
herrlich und wundervoll, daß mir der Gedanke, ein Teil davon und Ihm so nahe
zu sein, das Wasser heftig in die Augen trieb.
Noch näher aber würde das Rot nicht
kommen, wie ich einsehen mußte. Und ich begriff, daß Er seine Engel über mich befragte,
daß sie mich lobten, daß Er mich als einen guten Diener erkannte, der alle
Seine Gebote und Verbote einhielt, und daß Er mich liebte.
Plötzlich vergiftete ein Zweifel die
in mir aufsteigende Freude und meinen Tränenfluß. Um mich sogleich davon zu
befreien, stellte ich ungeduldig und schuldbewußt eine Frage: »Ich wurde
während der letzten zwanzig Jahre meines Lebens von den Bildern der Ungläubigen,
die ich in Venedig sah, stark berührt. Einmal wollte ich sogar mein eigenes
Bildnis nach ihren Methoden malen lassen, doch es machte mir angst. Später ließ
ich Deine Welt, Deine Diener und unseren Padischah, der Dein Schatten ist in
der Welt, nach den Methoden der Ungläubigen malen.«
Ich erinnerte mich nicht Seiner
Stimme, wohl aber Seiner Antwort in meinem Innern.
»Der Osten wie der Westen, beide
sind mein.«
Die Erregung riß mich fort.
»Nun gut, was ist der Sinn all
dieser ... welchen Sinn hat diese Welt?«
»Geheimnis«, hörte ich im Innern.
Oder auch »Liebe sie«, doch sicher weiß ich keines der beiden.
Als die Engel näher kamen, wußte
ich, daß auf dieser hohen Himmelsstufe ein vorläufiges Urteil über mich gefällt
worden war, ich aber noch Zehntausende von Jahren gemeinsam mit der Vielzahl
der anderen Seelen in dem Raum zwischen Tod und Auferstehung auf den Jüngsten
Tag und das für uns alle endgültige Urteil warten mußte. Alles geschah, wie's
in den Büchern geschrieben stand, und das machte mich froh. Und wie ich mich
erinnerte, mußte ich auch wieder zur Erde hinab und zurück in meinen Leichnam schlüpfen,
wenn ich bestattet werden sollte.
Doch ich spürte zum Glück sofort,
daß die Wiedervereinigung mit meinem Körper eine literarische Metapher war. Wie
ordentlich war doch trotz allem Kummer die würdige Trauergemeinde – ich spürte
Stolz –, als sie nach dem Gebet meinen Sarg auf den Schultern hinab zu dem
nahen kleinen Friedhof auf dem Hügelchen trug! Ich sah sie von oben her wie
einen zarten Faden.
Ich muß erklären, wo ich mich
befand. Wie aus der Überlieferung unseres Propheten Mohammed hervorgeht, die da
sagt: »Die Seele des Gläubigen ist ein Vogel, der sich von den Bäumen des
Paradieses nährt«, schwebt die Seele nach dem Tod am Himmel. Diese Überlieferung
bedeutet nicht, wie Abu Omar bin Abdulbar vorgibt, daß die Seele die Gestalt
eines Vogels annimmt oder gar ein Vogel wird, sondern, wie Al-Dschauzijja sehr
richtig feststellt, daß die Seele sich dort befindet, wo ein Vogel
umherschweben würde. Der Ort meiner Schau, den die perspektivliebenden Meister
Venedigs den »Blickwinkel« nennen würden, bestätigte die Deutung Al-Dschauijjas.
Ich kann von meinem Aufenthaltsort
her in diesem Augenblick zum Beispiel sowohl die zum Friedhof wandernde
Trauergemeinde als einen Faden sehen, als auch beobachten, wie die Segel eines
Bootes im Winde schwellen und es lustig Fahrt aufnimmt, sowie es am Ende des
Goldenen Horns vor dem Kap des Sarays zu kreuzen beginnt, ganz so, als genösse
ich den Anblick eines Bildes. Da ich aus der Entfernung einer Minaretthöhe
hinabschaute, erinnerte mich die ganze Welt an die Bilder eines wunderbaren
Buches, das ich Seite für Seite durchblätterte.
Aber ich konnte auch mehr sehen, als
einer sehen würde, der zu solcher Höhe aufstieg und dessen Seele sich nicht von
seinem Leib getrennt hatte: Kinder, die weit entfernt auf der anderen Uferseite
in einem leeren Garten zwischen den Grabstätten hinter Üsküdar Bockspringen
spielten; wie schön das mit sieben Doppelrudern besetzte Boot des Oberhauptes
der Diwanschreiber vorankam, mit dem wir vor zwölf Jahren und drei Monaten den
venezianischen Gesandten von seiner Ufervilla abholten, um ihn zu der Audienz
zu bringen, die ihm der Großwesir Ragip Pascha der Kahle gewähren würde; eine
dicke Frau auf dem neuen Markt in Langa, die einen riesigen Kohlkopf wie einen
Säugling an ihre Brust drückte; meine Freude darüber, daß der
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