Pamuk, Orhan
Diwan-Tschausch
Ramazan Efendi gestorben war und ich nun gute Aussichten auf seinen Posten
hatte; wie ich, auf dem Schoß meiner Großmutter sitzend, auf die roten Hemden
schaute, als meine Mutter im Hof die Wäsche aufhängte; wie ich in weit
entfernten Vierteln herumirrte, als bei Şeküres seliger Mutter die
Geburtswehen begannen, weil ich das Haus der Hebamme verwechselt hatte; den
Ort, an dem sich meine vor mehr als vierzig Jahren verlorene rote Schärpe
befand (also hat sie Vasfi gestohlen); den wunderbaren Garten in weiter Ferne,
den ich einmal vor einundzwanzig Jahren im Traum sah und den mir Allah, so
hoffe ich, später einmal als das Paradies zeigen wird; die Köpfe, Nasen, Ohren,
welche Ali Bey, der Statthalter von Georgien, hersandte, nachdem er den
Aufstand in der Festung Gori niedergeschlagen hatte; und meine schöne Şeküre,
die sich von den Nachbarinnen abgesondert hat, auf den Herd im Hof schaut und
um mich weint – all das erblicke ich nun gleichzeitig.
Die Bücher und die alten Weisen
sagen, die Seele habe vier Heime: 1. den Mutterleib, 2. die Welt, 3. das
Zwischenreich, mein jetziger Aufenthaltsort, 4. das Paradies oder die Hölle, in
die sie nach dem Jüngsten Tag gelangt.
Vom Zwischenreich her sind
Vergangenheit und Gegenwart im gleichen Augenblick zu sehen, und solange die
Erinnerungen der Seele darin verweilen, gibt es keine räumliche Begrenzung.
Doch erst wenn man die Verliese von Zeit und Raum verläßt, begreift man, welch
ein knappes Hemd das Leben ist. Daß in der Welt der Toten eine Seele ohne Leib
der Anlaß zu wahrem Glück ist und das größte Glück für die Lebenden ein Leib
ohne Seele wäre, kann leider niemand vor dem Sterben verstehen. Aus diesem
Grund beobachtete ich voll Sorge meine liebe Şeküre, die sich während
meiner schönen Bestattungsfeier daheim zerfraß und vergeblich um mich weinte,
und flehte zu Allah, dem Allmächtigen, damit Er uns im Paradies eine Seele ohne
Leib und auf Erden einen Leib ohne Seele gebe.
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Ich, Altmeister Osman
Ihr kennt die widerborstigen Greise, die ihr
Leben großzügig einer Kunst gewidmet haben und damit alt geworden sind. Jeder
wird von ihnen gescholten. Sie sind hochgewachsen, knochig und dünn. Und sie
wünschen sich, daß das kurze ihnen noch verbliebene Stück ihres Lebens eine
Wiederholung des langen Lebensabschnitts sei, den sie hinter sich gelassen
haben. Sofort brausen sie auf, beklagen sich über alles und jedes. Alle Zügel
halten sie in der Hand und bringen jeden dazu, sie zu verwünschen. Sie mögen
niemanden und nichts. Ich bin einer von ihnen.
So war auch der Meister der Meister,
Nurullah Selim Çelebi, mit achtzig
Jahren, als mir, dem sechzehnjährigen Lehrling, die Ehre zuteil wurde, in
derselben Buchmalerwerkstatt dicht an seinen Knien zu sitzen und mit ihm Bilder
malen zu dürfen (nur war er nicht so zornig wie ich). Und so war auch der
letzte große Meister Ali der Gelbe, den wir vor dreißig Jahren beerdigt haben
(und der war nicht so lang und dünn wie ich). Da mir bekannt ist, daß die
Pfeile der Mißbilligung, die hinterrücks auf diese legendären Altmeister
gerichtet waren, jetzt häufig meinen Rücken treffen, möchte ich euch wissen
lassen, daß so manches an dem üblichen Gerede über uns aus der Luft gegriffen
ist.
1. Uns gefällt nichts Neues, weil es
tatsächlich nichts Neues gibt, das einem gefallen könnte.
2. Wir behandeln
die meisten Menschen, als wären sie dumm, weil die meisten Menschen dumm sind,
und nicht, weil wir schwache Nerven haben, uns unglücklich fühlen oder wegen
anderer Mängel. (Dennoch würde man uns für höflicher und klüger halten, wenn
wir sie besser behandelten.)
3. Es hat nichts
mit Altersschwäche zu tun, wenn ich außer den Illustratoren, die ich seit ihrer
Lehrzeit liebe und ausbilde, viele Namen und Gesichter vergessen habe und durcheinanderwerfe,
es ist vielmehr die Blässe und Glanzlosigkeit dieser Namen, die das Erinnern
an sie wertlos macht.
Auf dem Begräbnis des Oheims, dem
Allah seiner Torheiten wegen recht früh das Leben nahm, versuchte ich zu
vergessen, welche Qual es für mich gewesen war, als der Verblichene mich einst
zur Nachahmung der fränkischen Meister gezwungen hatte. Auf dem Rückweg dachte
ich folgendes: Auch für mich sind die Wohltaten Allahs, die Blindheit und der
Tod, nicht mehr fern. Natürlich wird man sich der von mir gemalten Bilder und
illustrierten Bücher erinnern, solange sie euer Auge entzücken und Freude in
eurem Herzen
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