Pamuk, Orhan
hatte. Wir
suchten es unter den neun Blättern hervor und begannen es eingehend zu
studieren.
Es war ein schönes, schlichtes
rotbraunes Pferd, an dem man sich nicht satt sehen konnte. War ich ehrlich,
wenn ich sagte: nicht satt sehen konnte? Ich hatte viel Zeit gehabt, um dieses
Pferd anzuschauen, erst gemeinsam mit dem Oheim und später, als ich mit den
Bildern allein geblieben war, doch hatte ich damals nicht viel darauf gegeben.
Es war schön, aber dennoch ein ganz gewöhnliches Pferd, so gewöhnlich, daß wir
nicht einmal hatten herausfinden können, von wessen Hand es stammte. Es war
kein richtiger Goldfuchs, sondern von einer Farbe, die man kastanienbraun
nennt, und sie enthielt einen rötlichen Schimmer. Es war ein Pferd, das ich häufig
in anderen Büchern, auf anderen Bildern gesehen hatte, und man sah, daß es vom
Illustrator aus dem Kopf und ohne nachzudenken gezeichnet worden war.
So hatten wir das Pferd betrachtet,
bis wir auf einmal entdeckten, daß es ein Geheimnis barg. Jetzt erkannte ich
die Schönheit an dem Tier, die einem zarten Dunst gleich vor meinen Augen
schimmerte, entdeckte darin eine Kraft, die eine Begeisterung erweckte, zu leben,
zu erfahren und alles zu umarmen. »Wer ist der Maler mit der magischen Hand,
der dieses Pferd so dargestellt hat, wie Allah es sieht?« fragte ich mich
selbst, als hätte ich in diesem Augenblick vergessen, daß er ein elender Mörder
war. Das Pferd war hier, vor mir, wie ein wirkliches Pferd, doch wußte ein
Zipfel meines Verstandes, daß es nur ein Bild war, und der Zauber, der mich
zwischen diesen beiden Gedanken gefangenhielt, erweckte in mir ein Gefühl von
Integrität und Makellosigkeit.
Eine Zeitlang verglichen wir die
verwischten, zur Übung der Hand gezeichneten Tiere mit dem Pferd für das Buch
des Oheims und kamen zu dem Schluß, daß sie von ein und derselben Hand
stammten. Die Haltung der Pferde rief nicht den Eindruck von Bewegung, sondern
von gelassener Ruhe hervor. Sie waren stolz, edel und stark. Ich war
hingerissen von dem Pferdebild für das Buch des Oheims.
»Dieses Pferd ist so schön«, sagte
ich, »daß man sofort ein Blatt Papier zur Hand nehmen und das Bild eines
solchen Pferdes und dann überhaupt alles malen möchte!«
»Es bedeutet höchstes Lob für einen
Illustrator, wenn man sagt, daß seine Bilder unsere Begeisterung für das Malen
erwecken«, erklärte Altmeister Osman. »Aber laß uns jetzt nicht auf das Talent
dieses Teufels achten, sondern danach suchen, wer er ist. Hat der verstorbene
Oheim Efendi nicht erwähnt, welche Geschichte zu diesem Pferdebild gehören
sollte?«
»Nein. Doch er war der Meinung, dies
sei eins der Pferde in all jenen Ländern, über die unser machtvoller Sultan
gebietet. Ein schönes Pferd, ein Pferd des Hauses Osman, das dem Dogen von
Venedig den Herrschaftsbereich unseres Padischahs und seinen Reichtum vor Augen
führt. Andererseits sollte, wie alles, was die fränkischen Meister malen,
dieses Pferd auch blutvoller und lebendiger sein als ein aus der Sicht Allahs
entstandenes Pferd, es sollte einem Tier gleichen, das in Istanbul lebt, seinen
Stall und seinen Knecht hat, damit sich der Doge sagen muß: ›Wenn die
Illustratoren begonnen haben, die Welt wie wir zu sehen und zu malen, hat auch
der Osmane begonnen, uns ähnlich zu werden‹, und die Macht und die
Freundschaft unseres Padischahs anzuerkennen bereit ist. Denn beginnt einer
damit, ein Pferd auf andere Art und Weise zu malen, dann wird er auch bald die
Welt auf andere Art und Weise sehen. Trotz aller Abweichungen ist dieses Pferd
jedoch im Stil der alten Meister gemalt worden.«
Daß es an diesem Pferd so viel
Erwähnenswertes gab, erhöhte sogleich seine Anziehungskraft und seinen Wert
für mich. Sein Maul war leicht geöffnet und seine Zunge zwischen den Zähnen
sichtbar. Seine Augen glänzten, seine Beine waren kraftvoll und zierlich. Ist
es das Bild allein, was es zur Legende macht, oder das darüber Gesagte?
Altmeister Osmans Vergrößerungslinse wanderte gemächlich über das Pferd.
»Was will dieses Pferd sagen?«
fragte ich, innerlich bewegt. »Warum existiert es? Warum dieses Pferd?
Was bedeutet es? Warum erregt mich dieses Tier so stark?«
»Padischahs, Schahs und Paschas,
alle Förderer der Buchkunst, lassen durch die Bücher wie auch die Bilder, die
sie in Auftrag geben, ihre Macht verkünden und finden diese Werke wundervoll,
weil die Vergoldungen, die Fülle dessen, was der Illustrator an Augenlicht und
Mühe
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