Pamuk, Orhan
Licht,
das scheinbar in das Bild einsickert, ein Zögern oder ein Zorn, die man aus der
Komposition von Menschen, Pferden, Bäumen auf der Seite erspüren kann,
Begehren und Trauer, von der zum Himmel strebenden Zypresse ausgestrahlt,
Gottergebenheit und Geduld beim Malen an der Wand, die in blindmachender
Leidenschaft auf die Seite übertragen werden – das sind unsere geheimen
Zeichen, nicht aber die aufgereihten Pferde, die einander zu wiederholen
scheinen. Bei der Darstellung der Wut und Rasanz eines Pferdes gibt der Illustrator
nicht seine eigene Wut und Rasanz wieder; er versucht, das vollkommenste
Pferdebild zu malen und zeigt die Farben seiner Liebe zur Welt und zu Dem, der
sie schuf, eine Art von Liebe zum Leben – nichts weiter.«
42
Mein Name ist Kara
Einen ganzen Nachmittag hindurch waren
der große Altmeister Osman und ich mit den Buchmalermeistern und dem Buch
meines Oheims beschäftigt gewesen, wir hatten die vor uns liegenden Seiten
begutachtet, von denen manche beschriftet, andere vollendet, manche noch nicht
koloriert und wieder andere aus irgendeinem Grund unfertig geblieben waren, und
eine Aufstellung von allem gemacht. Wir meinten schon, den letzten der
respektvollen, aber groben Männer des Gardenobersten gesehen zu haben, welche
die Häuser der Buchmalermeister und Kalligraphen durchsucht hatten (einige der
eingesammelten Blätter hatten nicht das geringste mit unseren beiden Büchern zu
tun, andere wieder bewiesen einmal mehr, daß auch die Kalligraphen für ein paar
Asper mehr heimlich Arbeit außerhalb des Sarays annahmen), als einer von ihnen,
der mit dem größten Selbstvertrauen, sich dem Altmeister näherte und ein Stück
Papier aus seinem Gürtel zog.
Ich achtete zunächst nicht weiter
darauf, weil ich glaubte, es sei der Bittbrief eines Vaters, der seinen Sohn in
die Lehre geben und versuchen wollte, den Vorsteher einer Abteilung oder den
Agha einer Mannschaft zu erreichen. Das von draußen kommende bleiche Licht
sagte mir, daß die Morgensonne verschwunden war. Ich versuchte gerade, weit
ins Leere zu blicken, ohne mich auf einen Punkt zu konzentrieren, um meinen
Augen Ruhe zu gönnen, wie es die alten Meister von Schiras dem Illustrator als
häufige Übung empfohlen haben, damit er nicht schon in jungen Jahren erblinde.
Doch im gleichen Augenblick erkannte ich erschrocken das Papier in den Händen
des Altmeisters, das er staunend betrachtete, an der hübschen Farbe und an der
Faltung, die mein Herz höher schlagen ließen. Es stimmte ganz und gar mit den
Briefen überein, die Şeküre mir durch Ester geschickt hatte. Was für ein
Zufall, hätte ich fast wie ein rechter Schwachkopf gesagt, wo doch außerdem,
wie bei Şeküres erstem Brief, ein auf grobes Papier gemaltes Bild
beigelegt war.
Altmeister Osman legte die Abbildung
beiseite. Er gab mir den Brief, und ich sah beschämt, daß er von Şeküre
kam.
»Mein Herr Kara, ich habe Ester zu
Kalbiye, der Witwe der seligen Fein Efendi, geschickt, damit sie sich ein
wenig bei ihr umhöre. Kalbiye hat ihr dort dieses Blatt mit Zeichnungen
gezeigt, das ich jetzt mitschicke. Später habe ich sie zu Hause aufgesucht,
habe ihr in den Ohren gelegen und sie flehentlich gebeten, mir das Blatt
auszuhändigen, da es zu ihrem Besten sei. Man hat dieses Papier bei dem armen
Fein Efendi gefunden, als man ihn aus dem Brunnen zog. Kalbiye schwört, niemand
habe ihrem seligen Ehemann den Auftrag gegeben, ein Pferd zu zeichnen. Aber wer
hat es dann gezeichnet? Die Männer des Gardenobersten haben das Haus
durchsucht. Ich sende Dir dies, weil die Sache mit dem Pferd etwas Dringendes
sein muß. Die Kinder küssen Dir die Hand. Deine Frau Şeküre.«
Ehrfürchtig las ich die letzten drei Wörter des
schönen Briefes noch zweimal, als wären es drei herrliche rote Rosen im Garten,
die ich mit liebender Sorgfalt betrachtete. Dann blickte auch ich auf das Blatt
in Meister Osmans Hand, das er aufmerksam mit seiner Vergrößerungslinse
studierte. Trotz der stark zerlaufenen Tinte sah ich sofort, daß die Figuren
Pferde waren, die man zur Gewöhnung der Hand nach Art der alten Meister in
einem Zug gezeichnet hatte.
Altmeister Osman, der Şeküres
Brief ohne eine Bemerkung las, stellte dann die Frage: »Wer hat das
gezeichnet?«
Und gab sich selbst zur Antwort:
»Der Illustrator natürlich, der für den seligen Oheim das Pferd gezeichnet hat!
«
War er sich dessen so sicher? Zudem
wußten wir keineswegs, wer das Pferdebild für das Buch gezeichnet
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