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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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Verstand und viel Geschick besaß, genau im Paßgang, wie Ester uns
angewiesen hatte, und wir bogen auch richtig in die rechte Straße ein, wie
schön!
    Da hatte ich das Gefühl, ich sei
wirklich ein stattlicher Mann, und wie im Märchen betrachte mich hinter jedem
Fensterladen, hinter jedem Gitter eine der Frauen des Viertels, und ich begann
wieder mit dem gleichen Feuer zu brennen wie einst. War's das, was ich wollte?
Überfiel mich erneut die Krankheit, an der ich viele Jahre lang gelitten hatte?
Plötzlich kam die Sonne hervor, und ich war überrascht.
    Wo stand der Granatapfelbaum? War es
dieser traurige Krüppel? Ja, er war's! Ich drehte mich etwas zur Seite auf
meinem Pferd: Gerade mir gegenüber gab es ein Fenster, doch niemand war dort
zu sehen. Ester, die Hexe, hatte mich betrogen!
    So sagte ich zu mir, als im selben
Augenblick der eisbedeckte Fensterladen aufsprang und ich in dem
sonnenglänzenden Fensterrahmen meine schöne Geliebte sah, ihr schönes Antlitz,
nach nunmehr zwölf Jahren, dort zwischen den schneebedeckten Zweigen. Schauten
ihre schwarzen Augen mich an, oder blickten sie in ein anderes Leben jenseits
von mir? Blickte sie traurig oder lächelte sie, oder lächelte sie traurig? –
Ich wußte es nicht. Dummes Pferd, gleich deinen Schritt nicht meinem Herzen
an, geh langsam! Dennoch wandte ich mich bedenkenlos in meinem Sattel zurück
und schaute bis zuletzt voller Sehnsucht hin, bis das geheimnisvolle, zarte und
feine Antlitz hinter den weißen Zweigen verschwand.
    Viel später, nachdem ich den Brief
geöffnet und das Bild darin gesehen hatte, begriff ich, wie sehr dieser
Augenblick – ich auf dem Pferd und sie am Fenster und zwischen uns, wenn auch
etwas abseits, der melancholische Baum – jener wohl tausendfach gemalten Szene
von Hüsrev unter Şirins
Fenster glich und daß ich hell in Liebe entbrannt war, so wie es die Bilder
jener Bücher zeigten, die wir so heiß und innig geliebt hatten.

8
  Mein Name ist Ester
    Ich weiß, daß ihr alle neugierig seid auf
das, was in dem Brief steht, den ich Kara übergeben habe. Weil auch ich
neugierig war, habe ich alles in Erfahrung gebracht. Wie wär's, wenn ihr so
tätet, als würdet ihr die Seiten der Geschichte zurückblättern und sehen, was
geschehen ist, bevor ich ihm den Brief zusteckte; ich werd's euch erzählen.
    Es ist jetzt gegen Abend, wir sitzen
in unserem Haus im Judenviertel an der Mündung des Goldenen Horns, mein
Ehemann Nesim und ich, werfen Holz in den Ofen und versuchen, zwei kurzatmige
Alte, uns zu erwärmen. Laßt euch nicht davon beirren, daß ich mich eben eine
Alte nannte. Wenn ich erst einmal alles, was die Weiber in Aufregung versetzt,
Fingerringe, Ohrgehänge, Halsketten oder Perlenkram vom Teuren wie vom
Billigen, zwischen die seidenen Taschentücher, Handschuhe, Überwürfe und die
bunten Hemden, die das portugiesische Schiff gebracht hat, gelegt und mir mein
Bündel über den Arm gehängt habe, dann gibt es keine einzige Straße in ganz
Istanbul, die Ester nicht aufsuchen würde. Da ist kein Brief, da ist kein
Klatsch, den ich nicht von Tür zu Tür getragen hätte, und die Hälfte der
Istanbuler Mädchen habe ich unter die Haube gebracht, doch rede ich jetzt
nicht davon, um mich zu loben. Wie ich sagte, saßen wir gegen Abend beisammen,
da klopfte es an der Tür, ich machte auf, und vor mir stand diese dumme Sklavin
Hayriye, einen Brief in der Hand. Bibbernd und zitternd – ob vor Kälte oder
Aufregung, weiß ich nicht – erklärt sie mir, was Şeküre wünscht.
    Zuerst meinte ich, der Brief gelte
Hasan, und wunderte mich. Da war doch der Mann der schönen Şeküre, der einfach nicht
zurückkommt aus dem Krieg – meiner Meinung nach hat man dem armen Kerl schon
längst das Fell durchlöchert! Und ebendieser Krieger, der nicht heimkehrt, der
hat einen meschuggenen Bruder, und der heißt Hasan. Doch dann sah ich, der Brief
war nicht für Hasan, sondern für jemand anders bestimmt. Was da wohl drinsteht?
Ester platzt vor Neugier. Schließlich aber ist es mir gelungen, ihn zu lesen.
    Wir kennen einander nicht besonders
gut, ihr und ich. Offen gesagt, mir ist auf einmal unbehaglich zumute, ich
schäme mich. Wie ich den Brief gelesen habe, kann ich natürlich nicht verraten.
Ihr werdet vielleicht meine Neugier schändlich finden und mich verachten – als
ob ihr nicht mindestens so neugierig wäret wie der Barbier! Ich kann euch nur
weitererzählen, was ich zu hören bekam, als mir der Brief vorgelesen wurde. Und
das

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