Pamuk, Orhan
Kohlenbecken
in den Kamin an der Wand.
»Wo sind die Bücher?« fragte Meister
Osman flüsternd.
»Welche Bücher?« wollte der Zwerg
wissen. »Die aus Arabien, die kufischen Korane, jene, die Sultan Selim der
Gestrenge, unser hochseliger Chan, aus Täbris hat bringen lassen, die Bücher
hingerichteter Padischahs, deren Besitztümer eingezogen wurden, jene Bände,
die der venezianische Gesandte dem Großvater unseres Padischahs als Geschenk
überreichte, oder die Bücher der Christen, die noch aus der Zeit Sultan Mehmet
des Eroberers stammen?«
»Die vor dreißig Jahren von Schah
Tahmasp dem hochseligen Sultan Selim zu Geschenk übersandten Bücher«, sagte
Meister Osman.
Der Zwerg führte uns zu einem großen
hölzernen Kabinett. Als die Türen aufgingen und Meister Osman die Bücher sah,
wurde er ungeduldig. Er nahm einen Band heraus, las den Kolophon, blätterte
die Seiten um. Wir bestaunten gemeinsam die Seiten, die Bilder der leicht
schlitzäugigen Chane, jeder einzeln sorgfältig ausgeführt.
»Cengis Chan, Çağatay Chan, Tuluy Chan, Kubilay Chan, welcher
der Herrscher von China ist«, las Meister Osman und schloß das Buch, um ein
anderes hervorzuholen.
Wir fanden ein wunderschönes Bild
mit der Darstellung jenes Augenblicks, da sich Ferhat, von der Kraft der Liebe
beflügelt, gemeinsam mit seiner Geliebten Şirin aufs Pferd schwingt und
schmerzbewegt davonreitet. Um die Leidenschaft und den Kummer der Liebenden zu
betonen, waren die Zeugen der Leidenschaft Ferhats, das Felsgebirge, die
Wolken und die Blätter drei edler Zypressen, mit traurig bebender Hand
gezeichnet, so daß Meister Osman und ich sofort den Gram und den
Tränengeschmack der fallenden Blätter spürten. Wie von den großen Meistern
gewollt, war diese rührende Szene illustriert worden, um zu beschreiben, wie
alle Welt zu gleicher Zeit mit Ferhat unter der Liebe leidet, nicht aber, um
seine Körperkräfte darzustellen.
»Eine der vor achtzig Jahren in
Täbris angefertigten Nachahmungen«, meinte Meister Osman, stellte den Band
zurück und schlug einen anderen auf.
Hier gab es eine Abbildung der
erzwungenen Freundschaft zwischen Katze und Maus aus der Erzählung von Kelile
und Dimne. Die arme Feldmaus, auf dem Boden vom Marder, aus der Luft vom
Milan gejagt, findet ihre Rettung bei einer armen Katze, die einem Jäger in die
Falle ging. Sie verständigen sich: Die Katze gibt vor, die Freundin der Maus zu
sein, und leckt ihr das Fell. Der Marder und der Milan fürchten sich vor der
Katze und lassen ab von der Maus. Und dafür befreit die Maus die Katze
vorsichtig aus der Falle. Bevor ich noch die Einfühlungsgabe des Illustrators
so recht begriff, hatte der Meister das Buch schon wieder zu den anderen zurückgestellt,
ein anderes hervorgezogen und irgendeine Seite aufgeschlagen.
Dies war das hübsche Bild einer
geheimnisvollen Frau, die ihre eine Handfläche ausgestreckt hatte, während sie
etwas fragte, und dabei mit der anderen ihr Knie unter dem grünen Überwurf berührte,
während ein Mann, der Dame seitlich zugewandt, ihr aufmerksam zuhörte. Mir
gefiel das Bild, und ich war neidisch auf die Intimität, die Liebe und die
Freundschaft zwischen den beiden.
Und auch das legte Meister Osman
fort, öffnete ein anderes Buch, schlug eine andere Seite auf. Hier hatten die
Reitertruppen der beiden Todfeinde Iran und Turan ihre volle Rüstung angelegt,
Panzer, Helme, Beinschienen, Bogen, Köcher und Pfeile, saßen auf jenen schönen,
legendären Pferden, die bis zum Hals gepanzert waren, standen sich in zwei
ordentlichen Reihen auf einer staubgelben Steppe gegenüber, hielten die
buntbesetzten Spitzen ihrer Lanzen hoch und schauten, bevor auch sie sich ins
Kampfgetümmel stürzten, geduldig dem Zweikampf ihrer Befehlshaber zu, die
allein vorgeprescht waren. Es ist gleich, wollte ich gerade zu mir sagen, ob
ein Bild heute oder vor hundert Jahren entstand, ob es den Krieg oder die Liebe
darstellt, was der tiefgläubige Illustrator im Grunde genommen wiedergibt und
offenbart, ist der Kampf mit dem eigenen Willen und seine Liebe zum Malen, und
das bedeutet, wollte ich sagen, daß der Illustrator die eigene Geduld malt – als Meister Osman den schweren Band schloß und erklärte: »Das ist es auch
nicht.«
Auf den Seiten eines Albums sahen
wir eine weite, ins Unendliche reichende Landschaft mit hohen Bergen, die sich
in Wolkenkringeln verloren. Malen bedeutet, so dachte ich, diese Welt zu
betrachten und sie so wiederzugeben, als sei es die
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