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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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andere Welt. Altmeister
Osman schilderte, wie dieses chinesische Bild von Buchara nach Herat, von Herat
nach Täbris und von Täbris in den Saray unseres Padischahs gelangt war, wie es
ständig von Buch zu Buch übernommen, aus der Bindung gelöst wurde und später
gemeinsam mit anderen Bildern neu eingebunden und auf diese Weise von China
nach Istanbul gewandert sein könnte.
    Wir sahen schreckliche Bilder von
Krieg und Tod, eins immer besser gemalt als das andere: Rüstem und Schah
Mazenderan, Rüstem, der das Heer des Efrasiyab angreift; Rüstem, unerkannt in
seiner Rüstung als geheimnisvoller Held ... In einem anderen Album sahen wir
zerhauene Leichen und legendäre Heere, während sie unbarmherzig aufeinander
einschlugen, in rotes Blut getränkte
    Dolche, verzweifelte Krieger, den
Schein des Todes in den Augen, und Helden, die einander rasend zerstückelten.
Meister Osman betrachtete, wer weiß, zum wievielten tausendsten Mal, wie
Hüsrev die im Mondlicht badende Şirin beobachtet, wie die beiden Liebenden
Leyla und Mecnun nach langer Trennung einander wiedersehen und ohnmächtig
werden, und wie glücklich Salaman und Absal nach ihrer Flucht aus der Welt auf
die Insel der Seligen ganz allein unter Bäumen, Blumen und zwitschernden Vögeln
leben. Und wie ein wahrhaftig großer Altmeister konnte er sich nicht enthalten,
meine Aufmerksamkeit auch noch bei dem schlechtesten Bild auf irgendeine
Merkwürdigkeit in einer Ecke zu lenken, sei es eine Schwäche des Illustrators,
sei es das sprechende Wechselspiel der Farben: Welcher traurige, böswillige
Illustrator hatte die Unglücksbotin Eule ohne Not auf den Ast eines Baumes
gesetzt, während Hüsrev und Şirin den wundersamen Erzählungen ihrer
Hofdamen lauschen? Wer hatte den schönen Knaben in Mädchenkleidern zwischen
die ägyptischen Frauen gesetzt, die sich beim Öffnen süßer Pampelmusen in die
Finger schnitten, während sie des stattlichen Yusufs Schönheit bestaunten? War
jenem Illustrator, der die Blendung des Isfandiyar durch einen Pfeil malte,
bewußt gewesen, daß auch er später erblinden würde?
    Wir sahen die Engel, welche unseren
heiligen Propheten auf seiner Himmelfahrt umgaben, sahen den dunkelhäutigen
alten Mann mit langem Bart und sechs Armen, der den Saturn darstellte, den
friedlichen Schlaf des Säuglings Rüstem unter den wachsamen Blicken seiner
Mutter und der Wärterinnen in seiner perlmutterbesetzten Wiege und den
qualvollen Tod des Darius in den Armen Alexanders. Wir sahen, wie sich Behram
Gür mit der russischen Prinzessin in das rote Zimmer zurückzog, wie Siyavuş
auf einem schwarzen Pferd, dessen Nüstern keine Merkwürdigkeit aufwiesen,
durchs Feuer ritt, und sahen die kummervolle Grablegung des von seinem eigenen
Sohn ermordeten Hüsrev. Während Altmeister Osman die Bände schnell herausgriff
und wieder zurückstellte, erkannte er mitunter einen der Künstler und nannte
mir seinen Namen, suchte und fand zwischen Blumen, im Hintergrund einer Ruine
oder irgendwo in einem dunklen Brunnen, dem Versteck eines Dämons, eine
schamvoll verborgene Signatur, verglich Kolophone und Signaturen und erklärte
mir, wer was von wem übernommen hatte. Einige Bände blätterte er lange durch,
um diese oder jene Bildseite zu finden. Manchmal blieb es lange still, und wir
hörten nur das ungewisse Rascheln der Seiten. Dann wieder kam ein Ausruf von
Meister Osman: »Ja!«, und ich schwieg, weil ich nicht verstand, was ihn so in
Erstaunen versetzte. Ab und zu erinnerte er mich daran, daß wir die Aufteilung
der Seite, die Anordnung der Bäume und der Reiter schon in anderen Bänden in
den Szenen ganz anderer Geschichten gesehen hatten. In einem Band, der zur Zeit
des Timur-Sohnes Schah Rıza, also vor nahezu zweihundert Jahren,
entstanden war, verglich er eine Abbildung zu Nizamis Chamsa, den »Fünf
Büchern«, mit der aus einem vor achtundsiebzig Jahren in Täbris entstandenen
Band und fragte mich, wie die beiden Künstler das gleiche Bild hatten malen
können, ohne daß einer von dem Werk des anderen wußte. Dann gab er sich selbst
die Antwort: »Ein Bild malen heißt, sich zu erinnern.«
    Er öffnete und schloß alte Bände,
wurde wehmütig beim Anblick herrlicher Werke (weil niemand mehr so malen
konnte), war erheitert von unzulänglichen Arbeiten (weil wir Illustratoren
eigentlich alle Brüder waren!), zeigte mir, woran sich der Illustrator erinnert
hatte, die alten Bilder von Bäumen, Engeln, Schirmen, Tigern, Zelten, Drachen
und kummervollen

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