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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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Prinzen, und wollte damit folgendes zu verstehen geben: Allah
hatte einst die Welt in ihrer Einzigartigkeit erblickt und sie im Glauben auf
die Schönheit dessen, was er sah, seinen Knechten anvertraut. Uns, den Illustratoren
und den liebenden Betrachtern der Kunst, fällt die Aufgabe zu, sich des Wunders
zu erinnern, das Allah erblickte und uns überließ. Die größten Meister jeder
Malergeneration, die sich unter großen Mühen ein Leben lang dieser Aufgabe
widmeten, bis sie das Augenlicht verloren, haben mit viel Fleiß und
Vorstellungskraft versucht, in ihrem Werk dieses herrliche Bild zu erreichen,
das wir Allahs Gebot gemäß sehen sollten. Was sie taten, glich dem Sicherinnern
des Menschen an seine eigenen goldenen Erinnerungen. Doch leider konnten sich,
gerade so wie müde Greise oder vom Schaffen erblindete große Illustratoren,
selbst die größten Meister nur vage an dieses oder jenes ungewisse Teilchen des
glorreichen Bildes erinnern. Dies also war der Grund dafür, daß die alten
Meister, obwohl keiner je des anderen Werke sah und auch Hunderte von Jahren
dazwischenlagen, hin und wieder einen Baum, einen Vogel, einen Prinzen im Hamam
oder ein traurig dreinschauendes Mädchen am Fenster wie durch ein Wunder auf
ein und dieselbe Art und Weise zeichneten.
    Lange danach, als das rötliche Licht
in der Schatzkammer ein wenig dunkler geworden war und feststand, daß sich in
diesem Kabinett keines der Bücher befand, die Schah Tahmasp dem Großvater
unseres Sultans geschenkt hatte, kam Meister Osman noch einmal auf diese Logik
zurück: »Zuweilen wird der Flügel eines Vogels, die Art, wie ein Blatt am Baum
hängt, die Abrundung einer Gesimskante, das Schweben einer Wolke in der Luft
oder das Lächeln einer Frau über Generationen hinweg vom Meister an den
Lehrling weitergereicht, auswendig gelernt und bewahrt. Wie der Koran, den er
auswendig weiß, ist diese Einzelheit in sein Gedächtnis eingezeichnet, und er
wird sie nie mehr vergessen, denn er lernte sie von seinem Altmeister, übernahm
sie als feste Form und glaubte von Herzen an ihre Beständigkeit wie an die
Unveränderlichkeit des Korans. Doch bedeutet das Nichtvergessen keineswegs, daß
der Buchmalermeister diese Einzelheit immer verwendet. Die Gewohnheiten der
Werkstatt, in der er das Licht seiner Augen vergießt, oder jene des mürrischen
Meisters, der neben ihm malt und dessen Geschmack an der Farbe oder die Launen
des Sultans verbieten manchmal dem Illustrator, diese Einzelheit zu malen,
oder den Flügel eines Vogels oder das Lächeln einer Frau ...«
    »Oder die Nüstern eines Pferdes«,
warf ich ein.
    »Oder der große Meister führt die
Nüstern eines Pferdes nicht so aus«, sagte Meister Osman ohne zu lächeln, »wie
sie tief in seine Seele eingedrungen waren, sondern wirft sie aufs Papier, wie
es gerade in der Werkstatt, der er angehörte, üblich war. Verstehst du?«
    In einem der vielen schon
durchgeblätterten Bände, die Nizamis Hüsrev und Şirin schilderten,
las Meister Osman auf einer Seite, die Şirin auf dem Thron sitzend
darstellt, eine Inschrift, die hoch an der Wand des Palastes in Stein gemeißelt
war: »Allah, Allmächtiger, schütze die Macht unseres edlen Padischahs, unseres
gerechten Chans, des Sohnes des siegreichen Chan Timur, bewahre seine Herrschaft,
sein Land, damit er so glücklich [auf den linken Stein geschrieben] wie reich
sei [auf den rechten Stein geschrieben].«
    Später fragte ich: »Wo finden wir
die Bilder, auf denen der Illustrator die Nüstern des Pferdes so dargestellt
hat, wie sie in seinem Gedächtnis eingemeißelt sind?«
    »Wir müssen den legendären Band des Schahname, des Buchs der Könige, finden, den Schah Tahmasp als Geschenk
übersandte«, sagte Meister Osman. »Wir müssen zurückgehen zu den alten, sagenhaften
Zeiten, als Allah noch seinen Anteil an den Werken der Malkunst hatte. Wir
werden noch viele Bücher durchsehen.«
    Mir kam in den Sinn, daß es Meister
Osman eigentlich nicht darum ging, Pferde mit ungewöhnlichen Nüstern zu finden,
sondern er vielmehr die Absicht hatte, soviel wie möglich von den herrlichen
Bildern anzuschauen, die seit Jahren in der Schatzkammer ruhten, allen Blicken
verborgen. Ich hingegen brannte so sehr darauf, die Hinweise zu finden, die
mich mit der daheim wartenden Şeküre vereinen würden, daß ich kaum glauben
konnte, der große Altmeister könne den Wunsch haben, so lange wie nur möglich
in der eiskalten Schatzkammer zu bleiben.
    So fuhren wir fort,

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