Pamuk, Orhan
Süden, der vor den Kriegen und der Grausamkeit
der Schahs an seinen Hof geflüchtet war, und den anderen aus Samarkand im
Osten, doch er untersagte den beiden gefeierten Talenten, einer des anderen
Bildseiten anzuschauen, und gab beiden eine kleine Werkstube am jeweils
entgegengesetzten Ende seines Palastes. Die beiden großen Meister, die genau
siebenunddreißig Jahre und vier Monate lang getrennt blieben, lauschten also,
als sei es eine Legende, den Schilderungen Abdullah Chans, der die von ihnen
nie erblickten Bilder des jeweils anderen pries und ihnen sagte, worin sie sich
voneinander unterschieden und worin sie sich merkwürdig ähnlich waren – wodurch
ihre Neugier ins Unermeßliche wuchs. Als der usbekische Chan nach einer
schildkrötenartigen Lebensspanne gestorben war, eilte jeder der beiden alten
Buchmaler zu der Werkstube des anderen, um sich dessen Bilder anzusehen. Als
sie dann aber, jeder mit den Büchern des anderen auf dem Schoß, beide
nebeneinander auf den Ecken eines Sitzkissens hockten und jene Bilder betrachteten,
die sie aus den Erzählungen Abdullah Chans kannten, waren sie beide enttäuscht.
Denn die Illustrationen, die sie betrachteten, waren keineswegs so legendär
wie in den Erzählungen Abdullah Chans, sondern vielmehr gewöhnlich, ohne
Leuchtkraft und verschwommen wie alle Bilder, die sie während der letzten Jahre
gesehen hatten. Die beiden großen Meister erkannten nicht, daß die
Verschwommenheit auf ihrem allmählichen Erblinden beruhte, nicht einmal, als
sie bald darauf völlig blind wurden, und starben schließlich in dem Glauben,
man habe sie ihr Leben lang betrogen, und ihre Träume seien schöner gewesen als
ihre Bilder.
Während ich hier in tiefer Nacht in
der eiskalten Schatzkammer mit klammen Fingern die Seiten der Bücher
umblätterte, von denen ich vierzig Jahre geträumt hatte, war ich weitaus
glücklicher als die Helden der Geschichte aus Buchara. Manche jener legendären
Bücher, von denen ich ein Leben lang gehört hatte, in meinen Händen zu halten,
bevor ich erblindete und starb, versetzte mich in solche Begeisterung, daß ich
hin und wieder beim Anblick einer Seite, die noch schöner war, als die Legende
erzählte, vor mich hin murmelte: »Ich danke Dir, mein Allah, ich danke Dir!«
Als zum Beispiel Schah Ismail vor
achtzig Jahren den Fluß überquerte, Herat und ganz Chorasan kraft seines
Schwertes von den Usbeken zurückeroberte und seinen Bruder Sam Mirza in Herat
als Wali einsetzte, ließ der Bruder, um dieses glückliche Ereignis zu feiern,
das Buch Das Aufeinandertreffen der Sterne in Schrift und Bild nochmals
neu anfertigen, da es eine ähnliche Geschichte erzählte, die Emir Hüsrev im
Palast von Delhi miterlebte. Ein Bild in diesem Buch stellte, wie ich es aus
der Sage wußte, das Treffen von zwei Herrschern am Ufer des Flusses dar, wo sie
den Sieg und ihr Treffen feierten, und die Gesichter der beiden glichen nicht
nur den Helden der Erzählung, Sultan Keykubat von Delhi und seinem Vater Chan Buğra, dem Herrscher von Bengalen,
sondern auch Schah Ismail und seinem Bruder Sam Mirza, für die das Buch
entstanden war. Als ich beim Betrachten des Bildes sicher war, daß ich im Zelt
des Sultans stets die Gesichter jener Helden sah, deren Geschichte ich gerade
im Kopf hatte, dankte ich Allah von ganzem Herzen für die Möglichkeit, diese
Wunderseite sehen zu können.
Auf einem Bild von der Hand Scheich
Mohammeds, eines der großen Altmeister aus der gleichen legendären Zeit, ist
ein armer Untertan zu sehen, dessen Bewunderung und Neigung für seinen Sultan
die Stufe reiner Liebe erreicht hat. Während er dem Sultan beim Polospiel
zuschaut und lange geduldig hofft, daß der Ball auf ihn zurollen möge, damit er
ihn aufheben und zurückgeben kann, kommt der Ball tatsächlich in seine Nähe,
und der Augenblick, als er ihn aufhebt und seinem Padischah überreicht, ist im
Bild festgehalten. Die Liebe, Bewunderung und Hingabe, die ein armer Untertan
zu Recht für einen großen Chan, einen mächtigen Padischah, oder auch ein
hübscher junger Lehrling für seinen großen Meister fühlt, wie ich sie aus
Tausenden von Erzählungen kannte, waren in diesem Bild, angefangen vom Griff
der Finger des Mannes um den Ball bis zu seinem gesenkten Blick und der
Unfähigkeit, dem Sultan ins Auge zu schauen, so verständnisvoll und einfühlsam
dargestellt, daß dem Betrachter klar wird, was auch ich zutiefst empfinde: daß
es das größte Glück auf der Welt ist, der Meister
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