Pamuk, Orhan
Wüsten, Berge und Flüsse überwanden, nach Istanbul in
diese Schatzkammer gelangt war.
Wie weit konnten Kara und der Zwerg
meine, des greisen Illustrators, Aufmerksamkeit und Begeisterung teilen? Als
ich immer wieder neue Bände und Seiten darin aufschlug, spürte ich die tiefe
Trauer Tausender von Buchmalern, jeder von anderer Gemütsart, die in Hunderten
großer und kleiner Städte im Dienste jeweils auf eigene Weise grausamer Schahs,
Chane oder Fürsten gemalt und ihr Können bewiesen hatten und blind geworden
waren. Den Schmerz aber, den wir alle in unseren Lehrjahren gespürt hatten, als
man uns prügelte, mit dem Lineal auf die Wangen schlug, bis sie hochrot waren,
oder mit den Marmorglättern auf unsere kahlgeschorenen Schädel klopfte, den
fühlte ich, als ich schamvoll ein simples Buch durchblätterte, das die
Methoden und Werkzeuge der Folter beschrieb. Was dieses elende Buch im Schatz
des Osmanen zu suchen hatte, weiß ich nicht, war es doch von jener Art, die
ehrlose Illustratoren ohne weitere Bedenken gegen ein paar Goldstücke für die
ungläubigen Reisenden aufs Papier werfen, damit jene den Genossen ihres
Unglaubens beweisen können, wie grausam und herzlos wir sind, anstatt die
Folter als eine notwendige, unter Aufsicht des Kadis angewandte Methode zur
Erhaltung von Allahs Gerechtigkeit in der Welt zu akzeptieren. Dennoch schämte
ich mich für die ekelhafte Lust, die der Illustrator beim Malen dieser Bilder
von der Bastonade, den Schlägen, der Kreuzigung, vom Aufhängen mit dem Kopf
nach unten, vom Hängen am Haken, von der Pfählung, vom Abgefeuertwerden aus der
Kanone, vom Nageln, Würgen, Durchschneiden der Gurgel, vom Verfüttertwerden an
hungrige Hunde, vom Auspeitschen, vom In-den-Sack-gesteckt-, In-den-Schraubstock-gepreßt-,
Ins-kalte-Wasser-getaucht-Werden, vom Ausreißen der Haare, Brechen der Finger,
Abziehen der Haut, Abschneiden der Nase und Ausstechen der Augen empfunden
hatte, wie ich offen erkennen konnte. Aber nur ein wahrer Künstler, der wie wir
seine ganzen Lehrjahre hindurch gnadenlos die Bastonade, Schläge auf gut Glück
und, wenn der reizbare Meister eine falsche Linie zog, Fausthiebe einstecken
mußte, damit sich jener besser fühlte, oder der stundenlang Schläge mit dem
Stock oder dem Li neal ertrug, damit der Teufel in ihm abstarb und in einen
Dämon der Bildkunst verwandelt wurde, konnte bei der Wiedergabe von Bastonade
und Folter eine so tiefe Lust empfinden und die Instrumente mit so
fröhlich-bunten Farben bemalen, als seien sie die Flugdrachen von Kindern.
Wer einen Blick auf unsere Welt
wirft, wie einer, der nach Jahrhunderten die Bilder in den von uns
illustrierten Büchern von weitem und ohne allzuviel Verständnis betrachtet,
wohl wünschend, näher heranzutreten und sie zu erkennen, doch nicht geduldig
genug, der kann vielleicht die Scheu und das Glück, den tiefen Schmerz und den
Genuß für das Auge verspüren, die ich beim Anblick der Bilder in der kalten
Schatzkammer erlebte, doch niemals ganz begreifen. Während meine alten, von der
Kälte gefühllosen Finger die Seiten umblätterten, glitten meine altbewährte
Vergrößerungslinse mit dem Perlmuttergriff und mein linkes Auge über die
Bilder wie ein Storch auf der Wanderung, der die ganze Welt umflogen hat und
über die Landschaft unten nicht mehr erstaunt ist, doch immer noch bewundernd
nach neuen Ausblicken sucht. Von Seiten, die uns jahrelang vorenthalten
geblieben waren, deren Geschichten ich aber zum Teil kannte, erfuhr ich,
welcher Buchmaler was von wem gelernt hatte, in welcher Buchmalerwerkstatt, unter
welchem Schah als Schirmherr zuerst jene Sache aufkam, die nunmehr Stil genannt
wird, welcher legendäre Altmeister wem gedient hatte, oder ich erfuhr zum
Beispiel, daß die nach Art der Chinesen gekräuselten Wolken, die sich, wie ich
wußte, unter chinesischem Einfluß von Herat aus über das ganze Land der Perser
verbreitet hatten, auch in Kazvin Anwendung fanden, und seufzte hin und wieder
ein »Sieh mal an!« vor mich hin, doch der tiefer sitzende Schmerz, die Trauer
und die Scham, die ich zwangsweise mit euch teilen werde, bezogen sich auf die
Qualen, die Schmähungen, die Begeisterung und Hoffnung der hübschen,
mondgesichtigen, rehäugigen, schlanken Illustratoren, die so oft während der
Lehrjahre von ihren Meistern mißhandelt werden, bezog sich auf die Zuneigung
zwischen ihnen und den Meistern, auf die miteinander geteilte Liebe zum
Illustrieren und auf das Vergessenwerden und die
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