Pamuk, Orhan
Blindheit, die sie am Ende
ihrer Jahre erwarteten.
So betrat ich jene Welt der feinen
Empfindungen traurig und befangen, denn meine Seele hatte stillschweigend
vergessen, daß man sie darstellen konnte, weil ich viele Jahre hindurch mit
Bildern von Krieg und Festen für unseren Padischah beschäftigt gewesen war. In
einem Sammelalbum sah ich einen persischen Knaben mit roten Lippen und schmaler
Taille, der ein Buch auf dem Schoß hielt, wie ich in diesem Augenblick, und das
erinnerte mich daran, daß alles Schöne auf der Welt von Allah kommt – was die
macht- und goldgierigen Schahs so gern vergessen! In einem anderen Album sah
ich auf einer Seite zwei wunderschöne, ineinander verliebte junge Menschen, die
ein junger Meister aus Isfahan gemalt hatte, und betrachtete sie mit feuchten
Augen und dachte zurück an die Liebe meiner eigenen Lehrlinge zur Malerei und
den Malern. Ein schönes, schlankes Mädchen mit Kirschmund, Mandelaugen und
winzigem Näschen und ein ranker, feingebauter junger Mann mit durchsichtiger
Haut und kleinen Füßen wie sie selbst: Sie hat liebevoll seinen Arm entblößt – der zum Küssen einlud, und danach konnte man ruhig sterben! – und betrachtet
voller Staunen, als seien es drei schöne Blüten, die drei kleinen Male der
Leidenschaft, die er sich selbst tief eingebrannt hatte, um dem Mädchen seine
Liebe zu beweisen.
Auf einmal begann mein Herz schneller
zu schlagen. Und wie zu Beginn meiner Lehrzeit vor sechzig Jahren sammelten
sich beim Anblick der nicht ganz anständigen Bilder aus Täbris von marmorhäutigen
schönen Knaben und zarten Mädchen mit kleinen Brüsten, welche nach Art des
Meisters Schwarzstift gezeichnet waren, die Schweißtropfen auf meiner Stirn.
Ich erinnerte mich der tiefschürfenden Gedanken und des leidenschaftlichen
Wunsches zum Malen, die ich, einige Jahre verheiratet und auf dem Weg zum
Meister, empfunden hatte, als man eines Tages einen hübschen Jungen mit
Engelsgesicht, Mandelaugen und rosiger Haut als zukünftigen Lehrling in die
Buchmalerwerkstatt brachte. Für einen Augenblick spürte ich, daß die Malerei
nicht mit Befangenheit und Trauer, sondern mit dem Begehren verknüpft war, das
ich empfand, und daß des Meisters Talent diesen Wunsch zuerst in die Liebe zu
Allah verwandelte und dann die Liebe zu Allah in die Liebe zu der Welt, wie Er
sie sieht. Diese Empfindung war so stark, daß ich nun rückblickend all dies als
einen Sieg des Glücksgefühls erlebte: all die Jahre mit dem Arbeitspult auf dem
Schoß und dem wachsenden Buckel am Rücken, mit all den zum Erlernen meiner
Kunst bezogenen Prügeln, mit meiner Entschlossenheit, malend blind zu wer
den, und mit all den Qualen des Illustrierens, die ich selbst ertragen und
anderen verursacht hatte, auf überlegene Weise als freudigen Genuß erlebt zu
haben. Lange schaute ich schweigend und mit solchem Genuß das wunderschöne
Bild an, als sei es etwas Verbotenes. Viel später, noch immer in seinen Anblick
versunken, löste sich eine Träne aus meinem Auge, lief über meine Wange herab
und kroch in meinen Bart.
Als ich merkte, daß mir einer der
langsam in der Schatzkammer umherwandelnden Leuchter näher kam, legte ich das
Sammelalbum beiseite und schlug einen der Bände, die mir der Zwerg vor kurzem
gebracht hatte, an irgendeiner Stelle auf. Auch dies war eins der Alben, wie
man sie vor allem für einen Schah anfertigte. Hier sah ich am Rande einer
begrünten Fläche zwei ineinander verliebte Hirsche, neidisch belauert von
feindlichen Schakalen. Ich wendete das Blatt und sah fuchsbraune und rote
Pferde, so herrlich, wie nur die Herater Meister sie malen können! Ich wendete
ein weiteres Blatt und sah den Inhaber eines Amtes, der in selbstsicherer
Haltung vor mir saß. Das Bild war siebzig Jahre alt, und aus dem Gesicht hätte
ich ohnehin nicht erkennen können, wer es war, weil er so aussah wie jeder
andere, dachte ich gerade, als mich die Atmosphäre des Bildes und der
verschiedenfarbig getönte Bart des sitzenden Mannes an etwas erinnerte. Mein
Herz schlug heftig, ich erkannte die wundervolle Hand in dem Werk, mein Herz
hatte es geahnt, nur er konnte eine so schöne Hand zeichnen – der große
Altmeister Behzat. Es war, als ob mir aus dem Bild ein Licht entgegenstrahle.
Ich hatte bereits früher einige
Bilder des großen Meisters Behzat gesehen, doch niemals wurde mein Auge so wie
von diesem geblendet, sei es, weil ich diese Bilder nie allein, sondern vor
vielen Jahren gemeinsam mit den Meistern
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