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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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Schatten an der Wand leicht
ins Zittern, er neigte den Kopf aufmerksam über das Vergrößerungsglas in
seiner Hand, seine Lippen verzogen sich weich, als sei er drauf und dran, ein
erfreuliches Geheimnis preiszugeben, und begannen sich dann zu bewegen, wenn er
staunend ein Bild inspizierte.
    Nachdem das Portal wieder
geschlossen worden war, ging ich in ständig zunehmender Unruhe rastlos zwischen
den Räumen auf und ab. Ich dachte ängstlich daran, daß die Zeit nicht reichen
und es uns nicht möglich sein würde, aus den Büchern des Schatzes etwas
Brauchbares zu erfahren. Und da ich ahnte, daß sich Meister Osman der Sache
nicht zur Genüge widmete, sprach ich zu ihm von meinen Befürchtungen.
    Wie ein wahrer Meister, der es
gewöhnt ist, die Hände seiner Lehrlinge zu streicheln, hielt er liebevoll meine
Hand. »Für Menschen wie uns bleibt nur das Bemühen, die Welt wie Allah zu
sehen und uns Seiner Gerechtigkeit anzuvertrauen«, sagte er. »Und ich fühle
sehr stark, daß sich beide hier unter den Bildern und all den anderen Sachen
aufeinander zubewegen. Wenn wir der Blickweise Allahs auf die Welt näherkommen,
dann kommt uns auch seine Gerechtigkeit näher. Schau, das ist die Nadel, mit
der sich Altmeister Behzat blendete ...«
    Während er die grausame Geschichte
der Nadel erzählte, hielt er das Vergrößerungsglas dichter daran, und als ich
die scharfe Spitze dieses unerquicklichen Gegenstands aufmerksam besah,
erkannte ich dort etwas Rosiges, Feuchtes.
    »Für die Alten«, fuhr Meister Osman
fort, »war jede Veränderung ihrer Fähigkeiten, Farben und Methoden, denen sie
ihr Leben gewidmet hatten, eine schwere Gewissenslast. Die Welt den einen Tag
auf Befehl des Schahs im Osten in dieser Art und den nächsten Tag auf Befehl
des Herrschers im Westen in jener Art zu sehen, wie es die Heutigen tun, wurde
von ihnen als ehrlos betrachtet.«
    Seine Augen blickten weder in die
meinen noch auf die Seite vor ihm. Es war, als blickten sie in die weiße Helle,
die weit hinten in unerreichbarer Ferne lag. Auf der vor ihm liegenden Seite
des Buchs der Könige waren die Heere der Iraner und der Turaner mit
voller Wucht aufeinandergeprallt, die Pferde Schulter an Schulter
zusammengestoßen, hatten die Lanzen der Reiter Rüstungen durchbohrt und Leiber
zerstückelt, waren Köpfe und Arme abgetrennt, lagen zweigeteilte, blutende
Rümpfe über die Erde verstreut, brachten sich die heldenhaften, aufs höchste
erregten Krieger in Feststimmung und Farbenfreude mit gezückten Schwertern
gegenseitig um.
    »Wenn die großen Meister der alten
Tage gezwungen wurden, die Methoden der Sieger zu übernehmen und es deren Illustratoren
nachzutun, dann nahmen sie sich um ihrer Ehre willen mit einer Nadel selbst das
Augenlicht, das sie am Ende ohnehin verloren hätten, und schauten stunden-,
ja, tagelang ununterbrochen auf eine wunderschöne, vor ihnen liegende Seite,
bis sich das reine Dunkel gleichsam wie der Lohn Allahs auf ihre Augen senkte.
Da sie so lange Zeit hinunterstarrten, ohne den Kopf zu heben, wurden die
Bilder manchmal durch Blutstropfen befleckt, und die Welt und die Bedeutung
dieser Bilder nahmen, weil die Augen der heroischen Meister ganz allmählich
trüber und dann blind wurden, in ihrem Innern auf sanfte, milde Weise den Platz
all der Schlechtigkeiten ein, die sie je erlebt hatten. Welch ein Glück! Weißt
du, welches Bild ich anschauen möchte, bis ich ins Dunkel der Blindheit
eintauche?«
    Er hatte seine Augen, deren Pupillen
zu schrumpfen schienen, während das Weiße zunahm, auf einen fernen Punkt
gleichsam außerhalb der Schatzkammer gerichtet, wie jemand, der eine Kindheitserinnerung
zurückrufen möchte.
    »Die nach Art der alten Herater
Meister gemalte Szene, in welcher Hüsrev auf seinem Pferd, in Liebe zu Şirin
entbrannt, an ihrem Schlößchen vorbeireitet!«
    Ich hatte den Eindruck, als wolle er
jetzt dieses Bild zum Lob der Blindheit der alten Meister auf melancholisch-poetische
Weise beschreiben. »Mein hochverehrter Meister, Efendi«, unterbrach ich ihn
aus einem sonderbaren Antrieb heraus. »Was ich immer anschauen möchte, ist das
feine Gesicht meiner Geliebten. Wir sind seit drei Tagen verheiratet. Zwölf
Jahre lang habe ich sehnsuchtsvoll an sie gedacht. Jene Szene, in der Şirin
Hüsrevs Bild erblickt und sich in ihn verliebt, erinnert mich stets an sie.«
    Eine Vielfalt von Ausdrücken lag auf
Meister Osmans Gesicht, vielleicht auch Neugier, doch sie waren nicht auf meine
Geschichte oder die vor

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