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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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ihm liegende blutige Kampfszene gerichtet. Er schien
auf eine gute Nachricht zu warten, in der er nach und nach Trost finden konnte.
Als ich sicher war, daß er mich nicht sah, griff ich rasch nach der vor ihm
liegenden Federbuschnadel und entfernte mich.
    An einem dunklen Platz im dritten
Raum der Schatzkammer, der an das Hamam grenzte, gab es einen Winkel mit
Hunderten von seltsamen großen Uhren, die als Geschenk vieler fränkischer Könige
und Herrscher gekommen, doch bald ihren Geist aufgegeben hatten und hier
beiseite gelegt worden waren. Ich zog mich dorthin zurück und untersuchte die
Nadel genauer, von der Meister Osman sagte, Behzat habe sich damit geblendet.
    Die goldene Spitze der mit einer
rosigen Flüssigkeit bedeckten Nadel glitzerte hin und wieder in dem rötlichen
Tageslicht, das sich in den Goldrahmen der staubigen, unbrauchbaren Uhren,
ihren Kristallscheiben und Brillanten widerspiegelte. Hatte sich der legendäre
Altmeister Behzat wirklich mit diesem Instrument geblendet? Hatte sich Meister
Osman auch diese Grausamkeit angetan? Ein buntbemalter, fingergroßer
Marokkaner, der mit dem Mechanismus einer der großen Uhren verbunden war,
schien mich boshaft anzublicken und »Ja!« zu sagen. Sicher war, daß dieses
scherzhafte Geschenk des Königs der Habsburger und seines talentierten
Uhrmachers, falls man die Uhr wieder richten könnte, den Padischah und seine
Frauen im Harem aufheitern würde, wenn die Figur mit dem osmanischen Turban
beim Stundenschlag fröhlich mit dem Kopf nickte.
    Viele gewöhnliche Bücher gingen
durch meine Hände, die zu dem eingezogenen Hab und Gut enthaupteter Paschas
gehörten, wie mir der Zwerg erklärte. So viele Paschas hatte man hingerichtet,
daß die Bände kein Ende nahmen. Ein Pascha, erklärte der Zwerg mit kaltherzigem
Vergnügen, der im Rausch von Macht und Reichtum vergesse, daß er ein Untertan
ist, und wie ein Schah oder Padischah ein Buch in seinem Namen schreiben und
mit Gold illuminieren lasse, habe es nicht anders verdient, als daß ihm der
Kopf abgeschlagen und sein Vermögen eingezogen werde. Sogar in diesen Büchern,
deren einige Bilderalben, andere ornamentierte, illustrierte Sammlungen von
Poesie waren, betrachtete ich jene Szene, in der Şirin Hüsrevs Bild
entdeckt und in Liebe entbrennt, jedesmal, wenn ich sie sah, für eine lange
Zeit.
    Das Bild im Bild, jenes also, das Şirin
auf ihrem Ausritt anschaut, war niemals deutlich zu sehen. Das lag keineswegs
daran, daß die Maler etwas so Winziges wie das Bild im Bild nicht zur Genüge wiedergeben
konnten. Denn sehr viele Illustratoren waren imstande, so fein zu arbeiten,
daß sie Fingernägel, Reiskörner, sogar Haare bemalten. Warum also konnten sie
das Gesicht, die Augen des stattlichen Hüsrev, in dessen Anblick sich die
schöne Şirin verliebt, nicht deutlich erkennbar wiedergeben? Irgendwann
am Nachmittag dachte ich daran, Meister Osman diese Frage zu stellen, vielleicht
um meine Hoffnungslosigkeit zu vergessen, als mir beim Durchblättern eines
kunterbunt zusammengewürfelten Sammelbandes in einem auf Stoff gemalten
Brautzug ein Pferd in die Augen sprang. Mein Herzschlag setzte in diesem
Augenblick aus.
    Hier, vor mir, war ein Pferd mit
sonderbaren Nüstern. Es trug eine scheue Braut und schaute mich an. Und es
schien, als würde mir das magische Tier ein Geheimnis zuflüstern. Ich wollte
schreien, brachte aber, wie im Traum, keinen Ton heraus.
    Ein Griff nach dem Band – und schon
lief ich zwischen Kisten und Kasten hindurch zu Meister Osman und legte die
offene Seite vor ihn hin.
    Er blickte auf das Bild.
    Als sich nichts rührte auf seinem
Gesicht, wurde ich ungeduldig und sagte: »Die Nüstern des Pferdes sind genauso
gemalt wie die des Pferdes für das Buch meines Oheims.«
    Er hielt das Vergrößerungsglas über
das Pferd und kam dabei mit seinen Augen und der Linse dem Bild so nahe, daß
seine Nase es fast berührte.
    Die anhaltende Stille wurde mir
unerträglich. »Dieses Pferd ist nicht in der Art und dem Stil wie jenes für das
Buch des Oheims gezeichnet, wie Ihr seht«, sagte ich. »Doch die Nase ist
dieselbe. Der Maler hat versucht, die Welt wie die Chinesen zu sehen.« Ich
schwieg eine Weile. »Es ist ein Brautzug. Fast wie ein chinesisches Bild, aber
die Figuren darauf sind keine Chinesen, sondern gleichen uns.«
    Das Vergrößerungsglas des Meisters
schien jetzt auf dem Bild, seine Nase auf dem Glas zu kleben. Er hatte nicht
nur die Augen, sondern auch den Kopf, die Halsmuskeln,

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