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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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den greisen Rücken und
die Schultern in Bewegung gesetzt, um sehen zu können. Ein langes Schweigen
folgte.
    »Die Nüstern des Pferdes sind
aufgeschlitzt«, erklärte er schließlich atemlos.
    Ich lehnte meinen Kopf an den
seinen. Wange an Wange betrachteten wir für eine Weile die Nüstern. Und auf
einmal bemerkte ich voll Trauer, daß nicht nur die Nüstern des Tieres aufgeschlitzt
waren, sondern Meister Osman die größte Mühe hatte, sie zu sehen.
    »Ihr seht es doch, nicht wahr?«
    »Kaum«, sagte er, »beschreibe mir
das Bild.«
    »Wenn es nach mir geht, ist das eine
kummervolle Braut«, erklärte ich wehmütig. »Sie reitet auf einem Grauschimmel
mit geschlitzten Nüstern und ist mit ihrem Gefolge und fremden Bewachern auf
dem Weg zu ihrer Hochzeit. Die Gesichter der Männer, ihr harter Ausdruck, ihre
furchterregenden schwarzen Kinn- und riesigen Schnauzbärte, grimmigen
Augenbrauen, starken Knochen, die Gewänder aus schlichtem Stoff, ihr dünnes
Schuhwerk, ihre Bärenfellmützen, Äxte und Schwerter zeigen, daß sie Turkmenen
vom Weißen Hammel aus Transoxanien sind. Da die schöne Braut mit ihren Hofdamen
nachts im Schein von Lampen und Fackeln reist, muß ihr Weg noch weit sein:
Vielleicht ist sie eine traurige chinesische Prinzessin.«
    »Oder der Maler hat das Antlitz der
Braut, um seine makellose Schönheit hervorzuheben, mit Weiß bedeckt, wie's die
Chinesen tun, und auch die Augen schräg gestellt, so daß wir sie nun für eine
Chinesin halten«, gab Meister Osman zu bedenken.
    »Wer immer sie auch sei, ich
bedauere diese traurige Schöne, die mitten in der Nacht von finster
dreinblickenden Wächtern begleitet durch die Steppe in ein fremdes Land als
Braut eines unbekannten Ehemannes zieht«, sagte ich und fragte gleich darauf:
»Wie werden wir durch die geschlitzten Nüstern des Pferdes, das sie reitet, herausfinden,
wer unser Illustrator ist?«
    »Schlage die Seiten des Albums um
und beschreibe mir, was du siehst«, antwortete Meister Osman.
    Auch der Zwerg, den ich vorher auf
dem Nachttopf sitzen sah, als ich mit dem Album zu Meister Osman lief, gesellte
sich jetzt zu uns, und wir betrachteten zu dritt die Seiten, die ich aufschlug.
    Wir sahen schöne Chinesenmädchen,
dargestellt wie unsere kummervolle Braut, die in einem Garten beisammensaßen
und auf einer merkwürdigen Ud spielten. Wir sahen chinesische Häuser, traurige
Karawanen auf weiter Reise, Steppenbäume, Steppenlandschaften, schön wie alte
Erinnerungen. Knorrige Bäume sahen wir, gekrümmt und gewunden nach chinesischer
Art, in der Fülle ihrer Frühlingsblüte, mit frohgestimmten, munteren
Nachtigallen in den Zweigen. Wir sahen Prinzen nach Chorasan-Art in ihren
Zelten sitzen, wo sie von Poesie, Wein und Liebe sprachen, herrliche Gärten,
stattliche Herren auf der Jagd, die mit ihren wundervollen Falken auf dem Arm
kerzengerade auf ihren Pferden saßen. Dann folgten Seiten, die scheinbar von
einem Teufel durchgeistert worden waren, und wir spürten, daß die
Schlechtigkeiten auf dem Bild zumeist etwas Kluges bedeuteten. Hatte der
Illustrator der Bewegung des heldenhaften Prinzen, der den Drachen mit seiner
gigantischen Lanze erstach, nicht etwas Spott beigemischt? Hatte ihm die Armut
der verzagten Bauern, die sich von der Anwesenheit des Scheichs tröstliche
Hilfe versprachen, eine hämische Freude bereitet? Hatte er mehr Lust
empfunden, während er die traurigen Augen der armen, im Paarungsakt
verkrampften Hunde zeichnete, oder während er ein teuflisches Rot auf die
Lippen der Frauen auftrug, die lachend und mit offenem Mund den Tieren
zuschauten? Danach sahen wir auch die Teufel des Illustrators selbst: Diese
seltsamen Kreaturen glichen den Dämonen und Riesen, welche die alten Herater
Meister und die Illustratoren des Buchs der Könige so häufig gezeichnet
hatten, doch das spöttische Talent des Malkünstlers hatte sie böser,
aggressiver und menschenähnlicher dargestellt. Wir lachten, als wir die
fürchterlichen Teufel in Menschengröße, doch mit entstellten, geschrumpften
Körpern, verzweigten Hörnern und Katzenschwänzen sahen. Während ich die Seiten
umblätterte, begannen die nackten Teufel mit buschigen Brauen, runden Gesichtern,
riesigen Augen, spitzen Zähnen, spitzen Nägeln und dunkler, greisenhaft faltiger
Haut miteinander zu ringen, zu kämpfen, ein riesengroßes Pferd zu stehlen, um
es ihren Göttern zu opfern, turnend herumzuspringen, Bäume zu fällen, schöne
Sultaninnen mitsamt ihrer Sänften zu entführen,

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