Pamuk, Orhan
erschütternd und bewegend, daß die
Empfängerin des Schreibens, obwohl sie sich schämt, euch an diesen intimen
Dingen zu beteiligen, kleinlaut und verlegen darum bittet, den Brief noch
einmal vorzulesen. Und ihr tut es. Am Ende ist der Brief so oft gelesen worden,
daß ihr ihn beide auswendig kennt. Dann nimmt sie den Brief in die Hand und
fragt euch, ob dieses Wort hier stehe, ob man jenes dort gesagt habe, und
betrachtet den Punkt, auf den eure Fingerspitze deutet, ohne die Buchstaben
dort zu begreifen. Wenn sie das Buchstabengekräusel der Wörter anschauen, die
sie nicht lesen können, aber auswendig wissen, dann vergesse ich tief bewegt,
daß ich selbst nicht lesen und schreiben kann, und möchte am liebsten diese
unwissenden Mädchen umarmen und küssen, die Tränen über die Briefe vergießen.
Dann sind da noch jene
Unheilstifter, denen ihr's auf keinen Fall gleichtun solltet: Schwachköpfe, die
einem Mädchen, wenn es den Brief in die Hand nimmt, ihn noch einmal berühren
und dieses oder jenes Wort trotz Unverständnis anschauen möchte, vorhalten:
»Was willst du, lesen kannst du nicht, was gibt's da noch zu sehen?!« Manche
tun so, als sei der Brief ihr Eigentum, und geben ihn der Besitzerin nicht
zurück, und dann fällt es mir, der Ester, zu, mit ihnen um die Rückgabe des
Briefes zu kämpfen. So habe ich meine Erfolge, und ich werde auch euch helfen,
wenn ich euch mag.
9
Ich, Şeküre
Warum habe ich am Fenster gestanden, als
Kara auf seinem weißen Pferd gerade mir gegenüber vorbeiritt? Warum habe ich gerade
in jenem Augenblick, wie aus einer Ahnung heraus, die Fensterläden geöffnet
und lange, lange zu ihm hinübergeschaut, als ich ihn zwischen den
schneebedeckten Zweigen des Granatapfelbaums sah? Das kann ich euch nicht ganz
erklären. Ich habe durch Hayriye Nachricht an Ester gesandt und natürlich
gewußt, daß Kara dort vorbeikommen würde. Zu der Zeit war ich allein in dem
Zimmer, vor dem der Granatapfelbaum steht, um die Laken in den Wandschränken
zu inspizieren. Als ich froh und mit aller Kraft die Fensterläden aufstieß,
weil's mir gerade so in den Sinn kam, füllte zuerst die Sonne das Zimmer. Ich
blieb am Fenster stehen und sah mich, wie von der Sonne geblendet, Aug in Auge
Kara gegenüber es war wunderbar!
Er war erwachsen geworden, reif,
hatte die linkischen Bewegungen seiner Jugend abgelegt und war stattlich
anzusehen. Şeküre, sagt mir mein Herz, sieh doch, Kara ist nicht nur
stattlich, blick in seine Augen, sein Herz ist das eines Kindes, so rein und so
einsam. Heirate ihn. Doch ich habe ihm einen Brief geschickt, in dem genau das
Gegenteil steht.
Obwohl er zwölf Jahre mehr zählte,
als ich im zwölften Lebensjahr stand, wußte ich sehr wohl, daß ich reifer war
als er. Anstatt mir geradewegs und mannhaft zu erklären, er werde dies oder
jenes tun, werde von hier hinunterspringen, werde hier hinaufklettern, vergrub
er sich in jener Zeit in den Büchern und Bildern, versteckte sich dahinter, als
brächte ihn alles andere in Verlegenheit. Dann verliebte er sich in mich, malte
ein Bild und erklärte mir so seine Liebe. Wir waren nun beide groß genug
geworden. Kara mochte mir nicht in die Augen schauen, als ich zwölf Jahre alt
war, und da ahnte ich seine Furcht, ich könne in seinen Augen die Liebe zu mir
erkennen, wenn unsere Blicke sich träfen. Er sagte zum Beispiel: »Gibst du mir
bitte das Messer dort mit dem Elfenbeingriff?«, schaute zum Messer hin, hob
danach aber nicht den Blick zu mir. Oder wenn ich ihn fragte: »Ist der
Kirschensorbet gut?«, dann drückte er nicht, wie wir's gewöhnlich tun würden,
bei vollem Mund seine Zufriedenheit mit einem angedeuteten Lächeln aus. Nein,
er schrie mit aller Kraft: »Ja!«, als redete er mit einer Tauben. Seine Furcht
verbot ihm, mir ins Gesicht zu schauen. Ich war eine Schönheit damals. Alle
Männer, jeder, der mich von fern auch nur einmal kurz zu sehen bekam, zwischen
den Vorhängen, den dichten Stoffhüllen oder durch den Türspalt, war sofort in
mich verliebt. Ich sage dies nicht, um mich selbst zu preisen, sondern damit
ihr meine Geschichte begreift und meinen Kummer mit mir teilt.
Es gibt einen Augenblick in der
allgemein bekannten Erzählung von Hüsrev und Şirin, über den Kara und ich
sehr oft gesprochen haben. Hüsrevs Freund Şapur versucht, in den beiden die Liebe füreinander zu
erwecken. Eines Tages hängt er heimlich Hüsrevs Bild an den Zweig eines der
Bäume, unter denen sich Şirin und ihre Damen
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