Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
Vom Netzwerk:
hat die süße Şeküre
geschrieben:
    »Kara Efendi, Du berufst Dich auf
die nahe Verbindung zu meinem Vater und kommst in mein Haus. Doch glaube
nicht, daß ich Dir irgendein Zeichen geben werde. Viel ist geschehen, seit Du
fortgegangen bist. Ich habe geheiratet, habe zwei lebhafte, kräftige Kinder.
Einer ist Orhan, Du hast ihn gesehen, als er vorhin zu euch hineinkam. Seit
vier Jahren warte ich auf meinen Ehemann und denke auch an nichts anderes. Ich
könnte mich schwach, allein gelassen und hoffnungslos fühlen mit zwei Kindern
und einem alten Vater, könnte nach der Stärke und dem Schutz eines Mannes
verlangen, doch niemand soll glauben, er könne aus meiner Lage Vorteile ziehen.
Aus diesem Grund klopfe bitte nicht noch einmal an unsere Tür. Du hast mich
ohnehin schon einmal in eine schamvolle Lage gebracht, und wieviel Kummer habe
ich ertragen müssen, um mich damals vor den Augen meines Vaters reinwaschen zu können! Mit diesem Brief
schicke ich Dir ein Bild zurück, das Du als Jüngling mit dem Kopf in den Wolken
gemalt und mir zugesandt hattest. Damit Du keine Hoffnungen hegst, keine
falschen Zeichen liest. Zu glauben, daß die Menschen ein Bild anschauen und
sich verlieben könnten, ist eine Lüge. Meide unser Haus, das wird das beste
sein.«
    Meine arme kleine Şeküre, kein Mann,
kein Herr, kein Pascha ist sie, so daß sie ihr prächtiges Siegel darunter
setzen könnte! Nur den ersten Buchstaben ihres Namens hat sie wie ein scheues
Vöglein ganz unten auf das Blatt gesetzt, nichts weiter.
    Siegel, sagte ich. Ihr wüßtet nur
allzugern, wie ich die versiegelten Briefe öffne und wieder schließe. Die
Briefe sind nicht versiegelt. Diese Ester ist eine unwissende Jüdin, sie kann
unsere Schrift nicht entziffern, denkt meine liebe Şeküre. Richtig, ich
kann eure
    Schrift nicht lesen, aber ich lasse
jemand anders lesen. Was eure Briefe betrifft, so kann ich sie sehr wohl lesen.
Das verwirrt euch?
    Nun gut, ich will's erklären, damit
ihr's trotz eurer Schwerfälligkeit begreift.
    Spricht man von einem Brief, ist
nicht nur das Geschriebene gemeint. Ein Brief wird genau wie ein Buch gelesen,
indem man ihn beriecht, berührt und abtastet. Deshalb sagen die Klugen: Lies
einmal, was der Brief zu sagen hat, die Dummen aber: Lies einmal, was
geschrieben steht. Das Talent liest nicht nur die Schrift, sondern den Brief
als Ganzes. Hört euch an, was Şeküre noch alles gesagt hat:
    1. Auch wenn ich den Brief heimlich
versende, habe ich keine besondere Heimlichkeit beabsichtigt, da ich ihn durch
Ester schicke, die es sich zur Aufgabe und Gewohnheit gemacht hat, Briefe zu
besorgen.
    2. Das Papier wie
ein gefülltes Pastetchen zu falten bedeutet Verstecken und Geheimnis. Doch der
Brief ist offen. Außerdem liegt ein großes Bild dabei. Das heißt, wir tun so,
als wollten wir selbstverständlich, was denkt ihr! unser Geheimnis vor allen
verstecken. Und das wiederum paßt viel eher zu einem Brief, der die Liebe
herbeirufen, nicht aber zurückweisen will.
    3. Was auch der
Duft des Briefes bestätigt. Dieser Wohlgeruch, so ungewiß, daß jener, der mir
den Brief vorlas, im Zweifel blieb (hat sie bewußt Parfüm verwendet?), aber
auch so aufreizend, daß der arme Kerl nicht unbeteiligt bleiben konnte (ist das
Geranium oder der Duft ihrer Hände?) und es ihm den Kopf verdrehte. Ich
denke, der Duft wird Kara auf dieselbe Art und Weise den Kopf verdrehen.
    4. Ich bin die
Ester, die nicht lesen und schreiben kann, doch obwohl dieser Stift dem Fluß
der Linien gemäß behauptet: »Ich hab's eilig, schreibe nachlässig, ohne es
wichtig zu nehmen«, ersieht man aus dem feinen Gezitter der Buchstaben, die
ein zarter Windhauch erfaßt haben könnte, daß ganz tief innerlich genau das
Gegenteil gedacht wurde. Als von Orhan die Rede ist, heißt es: »vorhin«, um
anzudeuten, der Brief sei gerade jetzt geschrieben worden, sicher ist jedoch,
daß es vorher einen Entwurf gab, denn die Sorgfalt spricht aus jeder Zeile.
    5. Das dem Brief
beigefügte Bild erzählt das Märchen von dem stattlichen Hüsrev und der Şirin,
die sein Bild betrachtet und sich in ihn verliebt – was sogar ich, die Jüdin
Ester, weiß. All die Luftschlösser bauenden Frauen von Istanbul sind
hingerissen von dieser Geschichte, aber daß ein Bild von ihr übersandt wird,
sehe ich zum erstenmal.
    Ihr Glücklichen, die ihr lesen und schreiben könnt,
erlebt es oft: Eine, die des Lesens unkundig ist, fleht euch an, ihr einen
Brief vorzulesen. Der Inhalt ist so

Weitere Kostenlose Bücher