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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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und heimtückisch
durchschnitt. Der Neid unter Brüdern aber wird im Buch der Könige stets
von dem ungerechten Vater verursacht ...«
    »Das ist richtig.«
    »Euer ungerechter Vater, der euch
gegeneinander aufgebracht hat, ist jetzt dabei, euch zu verraten«, behauptete
Kara hochmütig. »Ach, laß das, es schneidet«, stöhnte er und schrie noch lauter
vor Schmerz. »Ja, es wäre die Sache eines Augenblicks, mir die Kehle
durchzuschneiden und mein Blut wie bei einem Opfertier fließen zu lassen. Doch
wenn du es tust, ohne mich anzuhören – ich glaube ohnehin nicht, daß du es
fertigbringst, ach, halt ein! –, dann wirst du jahrelang darüber rätseln, was
ich dir wohl habe sagen wollen. Lockre deinen Griff ein wenig.« Ich tat es.
»Jener Meister Osman, der jeden eurer Schritte, jeden eurer Atemzüge von
Kindesbeinen an verfolgt und die Entfaltung eures gottgegebenen Talents zu je
einer Frühlingsblüte der Künstlerschaft fürsorglich beobachtet hat, der kehrt
euch jetzt den Rücken zu, um sein und euer Lebenswerk, die Buchmalerwerkstatt
und ihren Stil, zu bewahren.«
    »Damit du begreifst, was für eine
häßliche Sache der Stil ist, habe ich dir am Tag der Beerdigung des Fein Efendi
drei Gleichnisse erzählt.«
    »Sie galten dem Stil eines
Illustrators«, erklärte Kara vorsichtig. »Die Sorge Meister Osmans aber gilt
der Aufrechterhaltung des Stils seiner Buchmalerwerkstatt.«
    Dann schilderte er ausführlich, wie
sehr dem Sultan daran gelegen war, den Mörder des Fein Efendi und seines
Oheims zu finden, wie er ihnen aus diesem Anlaß sogar das Tor des
Enderun-Schatzes geöffnet habe und wie Altmeister Osman diese Gelegenheit
nutzen werde, um das Buch des Oheims zu verhindern und jene zu bestrafen, die
ihn hintergangen und begonnen hatten, die fränkischen Meister nachzuahmen. Vom
Stil des Pferdes mit den geschlitzten Nüstern her gesehen falle der Verdacht
auf Olive, doch er werde Storch den Henkern ausliefern, weil er als Erster
Illustrator von dessen Schuld überzeugt sei. Ich spürte, daß er unter dem Druck
des Schwertes die Wahrheit sagte, und hätte ihn für die kindliche Wiedergabe
seiner Geschichte am liebsten geküßt. Was ich hörte, ängstigte mich nicht, denn
es bedeutete, daß ich nach dem Tod von Meister Osman – Allah gewähre ihm ein
langes Leben! – Erster Illustrator werden würde, wenn Storch erst einmal aus
dem Weg war.
    Nicht die Möglichkeit, daß alles,
was er erzählte, verwirklicht werden könnte, beunruhigte mich, sondern vielmehr
die Wahrscheinlichkeit, daß es nicht geschah. Die Lücken, die ich zwischen den
Worten seiner Schilderung zu spüren meinte, sagten mir, daß Meister Osman nicht
nur Storch, sondern auch mich opfern könnte. Der Gedanke an diese unglaubliche
Möglichkeit erschreckte mich nicht nur, er ließ mich auch das Entsetzen dessen
fühlen, der plötzlich seinen Vater verloren hat und obdachlos geworden ist.
Jedesmal, wenn ich mir dies vorstellte, wollte ich Karas Kehle durchschneiden,
hielt mich nur mühsam zurück und versuchte weder mit Kara noch mit mir selbst
über dieses Thema zu streiten: Warum sollte es uns zu Verrätern machen, wenn
wir für das Buch des Oheims ein paar sinnlose Bilder unter Einfluß der
fränkischen Meister malten? Ich dachte einmal mehr, daß hinter dem Tod des
Fein Efendi eine Verschwörung von Storch und Olive stecke, und zog mein Schwert
zurück.
    »Laß uns zusammen zu Olive gehen und
sein Haus von oben bis unten durchsuchen«, sagte ich. »Wenn das letzte Bild
dort sein sollte, haben wir wenigstens von niemandem mehr etwas zu befürchten.
Wenn nicht, dann nehmen wir ihn als Verstärkung mit und dringen in Storchs Haus
ein.«
    Ich sagte ihm, er solle mir trauen
und sein Dolch genüge für uns beide. Dann entschuldigte ich mich bei ihm für
das Versäumnis, ihm ein Glas Lindenblütentee anzubieten. Während ich die Lampe
aus dem Kaffeehaus vom Boden aufhob, blickten wir beide bedeutungsvoll auf das
rote Kissen, auf das ich ihn geworfen hatte. Ich trat mit der Lampe an ihn
heran und sagte ihm, der kaum sichtbare Schnitt an seiner Kehle würde das
Merkmal unserer Freundschaft sein. Er hatte nur ein klein wenig geblutet.
    Auf den Straßen herrschte noch das
Getöse der Erzurumer und ihrer Verfolger, doch niemand kümmerte sich um uns.
Wir kamen rasch zu Olives Haus, klopften an die Hoftür, klopften an die Haustür
und schließlich ungeduldig an die Fensterläden. Niemand reagierte, und nach dem
Lärm, den wir verursacht hatten, stand

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