Pamuk, Orhan
sorgte jemand für Ordnung in seinem
Haushalt – doch in meinem Traumbild von dem Haus mit der Treppe gab es keine
Ordnung. Zweitens würde ich davon erlöst werden, voller Schuldgefühle der
Onanie zu frönen oder im Schlepptau von Zuhältern noch schuldbewußter in
dunklen Hintergassen den Huren nachzulaufen.
Zu vorgerückter Nachtstunde brachte
mich diese Vorstellung vom Erlöstwerden auf den Gedanken, mir wieder einmal
einen runterzuholen. Mit dem naiven Wunsch, so die Grillen aus meinem Hirn zu
vertreiben, zog ich mich wie gewöhnlich in eine Ecke des Zimmers zurück, doch
sehr bald mußte ich einsehen, daß ich dem Laster nicht mehr frönen konnte. Ich
hatte mich nach zwölf Jahren von neuem verliebt!
Dieser treffende Beweis erfüllte
mein Herz mit Furcht und Erregung, so daß ich, fast wie das Kerzenlicht
zitternd, im Zimmer umherging. Wenn Şeküre ans Fenster trat und sich
offen zeigte, wozu diente dann jener Brief, der geradezu an das Gegenteil
denken ließ? Warum rief mich der Vater zu sich, wenn seine Tochter nichts von
mir wissen wollte, oder trieben Vater und Tochter ihr Spiel mit mir? Ich ging
im Zimmer auf und ab und spürte, wie die Tür, die Wände und die knarrenden
Bodenbretter versuchten, mir auf jede Frage knarrend und knirschend eine
Antwort zu geben, und dabei gleich mir ins Stottern gerieten.
Ich betrachtete, was ich vor langer
Zeit gemalt hatte, jene Szene, in der Şirin an dem Ast eines Baumes das
Bildnis Hüsrevs entdeckt und in Liebe zu ihm entbrennt. Die Inspiration dazu
hatte ich damals einem mittelmäßigen Buch entnommen, das neu aus Täbris
eingetroffen und in die Hände des Oheims gelangt war. Ich schämte mich nicht beim
Anschauen des Bildes (wegen der gewöhnlichen Art von Bild und Liebeserklärung),
wie in späterer Zeit, wenn ich an Vergangenes zurückdachte, noch brachte es mir
die Erinnerungen an das Glück der Jugend wieder. Gegen Morgen schließlich
gewann die Vernunft die Oberhand, und ich sah in der Rückgabe des Bildes einen
Zug in dem Schachspiel der Liebe, das Şeküre meisterlich für mich
angeordnet hatte. Ich ließ mich nieder und setzte beim Schein des Kerzenlichts
eine Antwort auf ...
Nachdem ich ein wenig geschlafen
hatte, verwahrte ich den Brief an meiner Brust, ging hinaus und lief lange Zeit
durch die Straßen. Der Schnee hatte die engen Gassen Istanbuls breiter werden
lassen, hatte die Stadt vom Gedränge der Massen gereinigt. Alles war leiser und
gedämpfter, wie in meiner Kinderzeit. Und wie ich es als Kind in den
verschneiten Wintertagen empfunden hatte, so schienen auch jetzt die Dächer,
Kuppeln und Gärten Istanbuls ringsum von Krähen belagert zu sein. Ich horchte
auf das Knirschen meiner Füße im Schnee, schaute den Atemwolken aus meinem Mund
zu, schritt rasch voran und geriet in Aufregung, als ich daran dachte, daß die
großherrliche Buchmalerwerkstatt, zu der mich der Oheim schickte, so still wie
die Straßen war. Ohne das Judenviertel zu betreten, ließ ich Ester durch ein
Kind Nachricht von meinem Brief bringen, der an Şeküre gehen sollte, und
nannte einen Ort, an dem wir uns vor dem Mittagsgebet treffen konnten.
Es war noch früh am Morgen, als ich
das Gebäude der Buchmalerwerkstatt hinter der Hagia Sophia aufsuchte. Außer
den Eiszapfen, die von den Dachgesimsen herabhingen, bot das Bauwerk, in dem
ich als Kind eine Weile als Lehrling gedient hatte und durch die Fürsprache des
Oheims ein und aus gegangen war, keinen veränderten Anblick.
Ein stattlicher junger Gehilfe
führte mich – er einen Schritt voran, ich hinter ihm her –‚ und wir kamen
vorbei an bejahrten Buchbindern, die vom Harz- und Kleistergeruch benommen
waren, an den zu früh alt und bucklig gewordenen Meistern der Buchmalerei und
an den Buben, die ohne hinzuschauen in den Farbtöpfen auf ihren Knien rührten,
weil ihre kummervollen Blicke von den Flammen im Kamin gefesselt waren. In
einem Winkel sah ich einen Greis, der ein Straußenei auf dem Schoß hielt und es
sorgsam einfärbte, sah einen älteren Mann, der fröhlich eine Kommode verzierte,
und einen jungen Gehilfen, der sie dabei voll Ehrfurcht beobachtete. Durch eine
offene Tür erblickte ich junge Schüler, die vom Meister gerügt worden waren und
nun, um die Fehler herauszufinden, ihre hochroten Gesichter so tief über das
Papier beugten, daß sie es fast berührten. In einer anderen Zelle hatte ein
tiefbetrübter Gehilfe Farben, Papiere und Malerei vergessen und schaute hinaus
auf jene Straße, auf der ich
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