Pamuk, Orhan
kurz zuvor erwartungsvoll hergekommen war. Die
Illustratoren musterten mich, den Fremden, feindselig aus dem Augenwinkel,
während sie bei offener Zellentür Kopien fertigten, mit Schablonen und Farben
hantierten und ihre Rohrstifte zuspitzten.
Über vereiste Treppenstufen stiegen
wir hinauf in das obere Stockwerk und durchschritten den offenen Umgang des
Gebäudes. Unten in dem schneebedeckten Innenhof standen zwei Schüler im Kindesalter,
die trotz ihrer Obergewänder aus dickem Wollstoff zitterten – vielleicht in
Erwartung einer Bestrafung. Mir kamen die Prügel in den Sinn, die man in
unserer frühen Jugend den Schülern wegen Faulheit oder Vergeudung der teuren
Farben verabreicht hatte, und die Stöcke, welche die Fußsohlen aufrissen, bis
sie blutig waren.
Wir betraten einen warmen Raum. Ich
sah Illustratoren, die bequem auf ihren Knien hockten, doch es waren nicht die
Meister meiner Phantasie, sondern junge Männer, die gerade aus der Lehre
entlassen worden waren. Da jene Großen, die Osman, der Meister aller Meister,
mit Beinamen bedacht hatte, nunmehr im eigenen Hause tätig waren, glich dieser
für mich ehedem so ehrfurchteinflößende und aufregende Raum nicht mehr der
Buchmalerwerkstatt eines gewaltigen, reichen Padischahs, er ließ vielmehr an
die größere Räumlichkeit einer in der Weite unzugänglicher Berge verlorenen
Karawanserei des Ostens denken.
Als ich Osman, den Meister aller
Meister, nach fünfzehn Jahren wiedersah, wirkte er nicht so sehr wie ein
Schatten, sondern mehr wie ein Gespenst auf mich. Der große Meister, den ich
genauso wie Behzat in meinen Gedanken bewundert hatte, wann immer ich auf
meinen Fahrten vom Ornamentieren oder Malen träumte, schien mit seinem weißen
Gewand im weißen Schneelicht, das vom Fenster zur Hagia Sophia hin einfiel,
schon längst zu den Geistern des Jenseits eingegangen zu sein. Ich küßte seine
mit Leberflecken übersäte Hand und sagte ihm, wer ich war: daß mich der Oheim
als Kind hier eingeführt, ich aber das Schreibrohr vorgezogen hatte, von hier
fortgegangen und jahrelang auf Reisen gewesen war, daß ich in den Städten des
Ostens den Paschas als Sekretär gedient, mich auch als Sekretär der
Schatzmeister betätigt, die Kalligraphen und Buchmaler von Täbris ausfindig
gemacht und ihnen gemeinsam mit Serhat Pascha und anderen gleichen Ranges die
Anfertigung von Büchern aufgetragen hatte, daß ich mich in Bagdad und Aleppo,
in Van und Tiflis aufgehalten und so manche Schlacht miterlebt hatte.
»Ach, Tiflis!« seufzte der
Altmeister, während er in den Lichtschein blickte, der vom schneebedeckten
Garten her durch das gewachste Fenstertuch sickerte. »Schneit es jetzt dort?«
Er wirkte auf mich wie die alten
persischen Meister aus den zahl losen Legenden, die erblinden, während sie
ihre Kunst vervollkommnen und ab einem bestimmten Alter ein Leben halb als
Weise, halb als kindische Greise führen. Doch aus seinem verschlagenen Blick
konnte ich sofort den Haß auf meinen Oheim und seinen Argwohn mir gegenüber
ablesen. Dennoch erzählte ich ihm, daß der Schnee in den Wüsten Arabiens nicht
allein wie hier auf die Hagia Sophia fällt, sondern auch auf die Erinnerungen.
Und fällt der Schnee auf die Burg von Tiflis, so erzählte ich weiter, dann
singen die Frauen beim Wäschewaschen blütenfarbene Lieder, und die Kinder verstecken
Gefrorenes unter ihren Kissen für den Sommer.
Er sagte: »Berichte mir, was die
Illuminatoren und Maler in den Ländern, die du besucht hast, verzieren und
malen.«
Ein Junge, der in einem Winkel beim
Ziehen von Rahmenlinien ins Träumen geraten war, hob den Kopf von seinem
Arbeitsständer und blickte mich nun wie alle anderen an, als wollte er sagen:
Nun erzähl einmal das wahre Märchen! Ich hegte keine Zweifel, daß diese
Menschen, von denen so mancher den Krämer in seinem Viertel nicht kannte, nicht
wußte, warum sich der Nachbar mit dem Gemüsemann stritt oder wieviel ein Okka
Brot kostete, dagegen sehr wohl darüber im Bilde waren, wer zu Täbris, Kazvin,
Schiras und Bagdad auf welche Art illustrierte, welche Chane, Schahs, Padischahs
und Prinzen wieviel Geld für ein Buch ausgegeben hatten, und daß ihnen
zumindest die neuesten, sich in diesen Kreisen so rasch wie die Pest
verbreitenden Klatschgeschichten und Gerüchte zur Genüge bekannt waren. Ich
erzählte trotzdem, denn ich kam von dort, aus dem Osten, aus dem Land der
Perser, wo die Heere kämpften, die Kronprinzen einander an die Kehle gingen,
Städte
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