Pamuk, Orhan
auf
diese Weise das Buch niemals fertig werden würde, nahmen sie tatarische Boten
in Dienst. Jeder von ihnen erhielt mit der Seite, die beschriftet und bemalt
werden sollte, einen Brief für den jeweiligen Künstler mit der Beschreibung des
Gewünschten. So ritten im Land der Perser, in Chorasan, im Land der Usbeken und
in Transoxanien auf allen Straßen Boten, die Buchseiten hin und her transportierten.
Je schneller die Boten, desto rascher ging auch die Fertigstellung des Buches
voran. Manchmal begegneten sie einander in einer Karawanserei, und während
nachts draußen im Schnee die Wölfe heulten, stellte sich, wenn sie ins Plaudern
kamen, heraus, daß beide Boten für dasselbe Buch unterwegs waren, der eine zum
Beispiel mit dem neunundfünfzigsten und der andere mit dem
einhundertzweiundsechzigsten Blatt, und dann versuchten sie anhand der Blätter,
die jeder aus seiner Schlafkammer holte, herauszufinden, welches der Gedichte
wohin gehörte.
Eine Seite des Buches, von dem ich
heute zu meinem Leidwesen erfuhr, daß es inzwischen vollendet wurde, hätte ich
einnehmen sollen. Doch wie's das Unglück wollte, schnitten Räuber an einem
eisigen Wintertag dem tatarischen Boten, der mich bei sich trug, beim Ritt
durch die Felsenpässe den Weg ab. Zuerst verprügelten sie den armen Tataren,
dann wurde er nach Räuberart von ihnen ausgeplündert, genotzüchtigt und
schließlich grausam umgebracht. Aus diesem Grund weiß ich nicht, an welcher
Stelle ich herausgefallen bin. Meine Bitte an euch: Schaut mich an, und sagt
mir, ob ich vielleicht Mecnun als Schatten begleiten sollte, während er in
Hirtentracht Leyla in ihrem Zelt besucht? Oder sollte ich mich ins nächtliche
Dunkel mischen, um die Finsternis in der Seele des hoffnungslos Verzweifelten
zu verkörpern? Ich hätte mir so gewünscht, das Glück zweier Liebender begleiten
zu können, die sich der Welt entzogen, die Meere überwunden und auf einer Insel
reich an Früchten und Vögeln ihren Frieden gefunden haben! Ich wünschte mir,
ich hätte Alexander, dessen Haupt der Sonne preisgegeben war auf seinem
Eroberungszug im Lande Indien, in seinen letzten Augenblicken Schatten spenden
können, als Tag um Tag das Blut aus seiner Nase drang und sein Leben verrann.
Oder sollte ich dazu dienen, auf die Kraft und das Alter des Vaters zu
verweisen, der seinen Sohn über die Liebe und das Leben belehrt? Welche
Geschichte sollte ich durch Anmut und Sinngebung bereichern?
Einem der Räuber, die den Boten
ermordet, mich mitgenommen und durch Stadt und Land herumgeschleppt hatten,
wurde hin und wieder mein Wert bewußt, und er besaß genügend Gefühl, um das
Bild eines Baumes zu betrachten und sich an dem Anblick eines Baumes zu
erfreuen, doch weil er nicht wüßte, zu welcher Geschichte ich gehörte,
langweilte ich ihn auch sehr bald. Der Bandit zerriß mich nicht und warf mich
auch nicht fort, wie ich befürchtet hatte, nachdem er von Stadt zu Stadt
gezogen war, sondern er verkaufte mich in einer Herberge für einen Krug Wein
an einen feinen Mann. Der weinte manchmal in den Nächten und betrachtete mich
bei Kerzenlicht, der arme, feine Mann. Als er vor Kummer starb, verkaufte man
sein Hab und Gut. Dank dem Meister-meddah, der mich erwarb, kam ich von weit
her bis nach Istanbul. Jetzt bin ich sehr glücklich, fühle mich geehrt, hier
und heute nacht unter euch, den Buchmalern und Kalligraphen des osmanischen
Padischahs, zu sein, die ihr Wunder schaffende Hände, adlerscharfe Augen, einen
stählernen Willen, zarte Handgelenke und eine empfindsame Seele besitzt, und
ich flehe euch an um der Liebe zu Allah willen, denen keinen Glauben zu
schenken, die behaupten, ein Meister der Malerei habe mich eiligst auf
schlechtem Papier gezeichnet, um mich an die Wand zu hängen.
Hört nur, was es außerdem noch an
Lügen, Verleumdungen und frechen Erfindungen gibt! In der vorigen Nacht hat
mein Meister hier an die Wand das Bild eines Hundes gehängt und die Abenteuer
dieses unverschämten Köters erzählt, inzwischen aber auch von den Abenteuern
eines Husret Hodscha aus Erzurum gesprochen, nicht wahr?! Nun haben die
Anhänger der ehrenwerten Erzurumer Nusret Hodscha dies falsch verstanden und
geben vor, wir hätten ihm etwas angehängt. Als ob wir uns je erlauben würden,
von dem großen, ehrenwerten Herrn Prediger Nusret Hodscha zu sagen, sein Vater
sei unbekannt! Allah behüte! Würden wir je so etwas denken? Was für eine
Intrige, was für eine unverschämte Verleumdung! Und wenn hier
Weitere Kostenlose Bücher