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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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eines Baumes hänge. Richtig. Es gibt jetzt neben mir weder andere
zarte Bäume noch siebenblättrige Steppengräser, auch kein dunkles, bizarres
Gestein, das manchmal dem Teufel, manchmal dem Menschen ähnlich ist, und auch
keine chinesischen Kringelwolken am Himmel. Bloß der Boden, der Himmel, ich,
eine Linie als Horizont. Doch meine Geschichte ist viel verschlungener.
    2. Als ein Baum
muß ich nicht unbedingt Teil eines Buches sein. Doch es raubt mir den Frieden,
daß ich als Bild eines Baumes kein Blatt in einem Buch bin. Da ich aber nicht
als Darstellung zu einem Buch gehöre, könnte man, so denke ich, mein Bild an
die Wand hängen, wie es die Götzendiener oder die Ungläubigen tun, sich vor
mir niederwerfen und mich anbeten. Soll es den Hodschas aus Erzurum nicht zu
Ohren kommen, aber insgeheim bin ich stolz darauf, dann auch wieder beschämt
und voller Furcht.
    3. Der eigentliche
Grund für meine Einsamkeit liegt darin, daß ich nicht weiß, zu welcher
Erzählung ich gehöre. Ich sollte Teil einer Geschichte sein, doch ich bin wie
ein Blatt vom Baum herabgefallen. Also muß ich sie erzählen,
    DIE GESCHICHTE VON MEINEM FALL AUS
MEINER GESCHICHTE, IN DER ICH WIE EIN BLATT VOM BAUM GEFALLEN BIN:
    Als die geistigen Kräfte Tahmasps, Schah der Perser
und größter Feind der Osmanen, aber auch der größte Liebhaber der Buchmalerei
in aller Welt, vor nunmehr vierzig Jahren nachzulassen begannen, zog er sich
von all den Dingen zurück, die ihm bis dahin am wichtigsten gewesen waren: das
Vergnügen, der Wein, die Musik, die Poesie und die Malerei. Als er auch den
Kaffee aufgab, war es mit seinem Verstand nicht mehr zum besten bestellt. Ein
mürrischer, finsterer Greis, verlegte er seine Residenz, damit sie möglichst
weit vom osmanischen Heer entfernt sei, von Täbris, das damals persisch war,
nach Kazvin. Daß er eines Tages, als er älter und älter wurde, mit einem Schlag
völlig den Verstand verlor und dem Wein, der Knabenliebe und der Buchmalerei
auf ewig abschwor, ist ein guter Beweis dafür, daß er mit dem Geschmack am
Kaffee auch das Denkvermögen verloren hatte.
    Auf diese Weise wurden die
Buchbinder, Kalligraphen, Vergolder und Buchmaler, deren magische Hände zwanzig
Jahre lang in Täbris die größten Wunder der Welt geschaffen hatten, in alle
Winde zerstreut, in andere Städte vertrieben. Die Begabtesten unter ihnen rief
Sultan Ibrahim Mirza, der Neffe und Schwiegersohn von Schah Tahmasp, nach
Meschhed, wo er als Wali regierte, gab ihnen Unterkunft in seiner
Buchmalerwerkstatt und den Auftrag zu einem herrlichen Werk. So begannen sie
mit der Schönschrift, dem Ausschmücken und den Bildern für ein Buch mit den
sieben Gedichten des Heft Evreng – der »Sieben Sterne des Großen und des
Kleinen Bären« –, die Cami, der größte Dichter in Herat zur Zeit Timurs,
verfaßt hatte. Als Schah Tahmasp, der seinen klugen, liebenswürdigen Neffen
zwar liebte, aber auch beneidete und es bereute, ihm die Tochter gegeben zu
haben, von diesem Wunderwerk hörte, wurde er eifersüchtig und versetzte den
Neffen voller Zorn von seinem Amt als Wali in Meschhed in die Stadt Kain und
danach in noch größerem Zorn in die noch kleinere Stadt Sebzivar. Und die Kalligraphen
und Buchmaler von Meschhed zerstreuten sich, gingen in andere Städte, andere
Länder, wurden in die Buchmalerwerkstatt anderer Sultane, anderer Prinzen
aufgenommen.
    Doch wie durch ein Wunder blieb das
herrliche Werk des Sultan Ibrahim Mirza nicht unvollendet, denn es hatte einen
wahren Bibliothekar zum Betreuer. Dieser Mann bestieg ein Pferd und ritt nach Schiras,
weil der Meister dort die besten Vergoldungen machte, er nahm zwei Seiten und
brachte sie nach Isfahan zu jenem Kalligraphen, der die feinsten Linien der nestalik genannten Schriftart zu ziehen wußte, dann ritt er durchs Gebirge nach
Buchara und ließ den großen Buchmalermeister, der dem Chan der Usbeken diente,
die Komposition des Bildes entwerfen und die menschlichen Figuren einsetzen.
Sodann begab er sich nach Herat, wo ihm einer der alten, halbblinden Meister
das Gekräusel der Gräser und des Blattwerks malen mußte, und er suchte dort
noch einen Kalligraphen auf, der auf dem Bild die Tafel über der Tür mit
goldenen rika- Schriftzeichen ausfüllte. Schließlich kehrte er wieder
nach Süden, nach Kain zurück, um Sultan Ibrahim Mirza die nach sechs Monaten
Reise zur Hälfte fertiggestellte Bildseite vorzulegen und dafür gelobt zu
werden.
    Als sie begriffen hatten, daß

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