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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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unsere Bilder zu anderen Zeiten in anderen Büchern verwendet.
Das ist eine delikate Sache, auf die man nicht einfach mit Bedauern oder Freude
reagieren kann. Deswegen würde ich den Illustrator nach der Zeit fragen. Nach
der Zeit des Bildes und nach der Zeit Allahs. Begreifst du, mein Sohn?«
    Nein. Aber das sagte ich nicht,
sondern fragte: »Und die dritte Sache?«
    »Die dritte Sache ist die Blindheit!
« erklärte der Meister der Meister, der Erste Illustrator Osman, und schwieg,
als sei es etwas so Offenkundiges, daß sich jede Erklärung erübrige.
    »Was hat es auf sich mit der
Blindheit?« fragte ich, kleinlaut und verschämt.
    »Blindheit ist stumm. Wenn du
vereinst, was ich vorhin als erstes und zweites erwähnte, wird die Blindheit
sichtbar. Der profundeste Moment in der Kunst des Malens ist die Erkenntnis
dessen, was sich in der Dunkelheit Allahs offenbart.«
    Ich schwieg und ging hinaus. Ohne
besondere Eile stieg ich die vereisten Treppen hinab. Und ich wußte, daß ich
Schmetterling, Olive und Storch die drei großen Fragen des großen Meisters
nicht einfach um des Plauderns willen stellen würde, sondern um meine schon im Leben
zur Legende gewordenen Altersgenossen verstehen zu können.
    Doch ich besuchte die
Buchmalermeister nicht sofort in ihren Behausungen. Auf einem neueröffneten
Markt nahe dem Judenviertel, den man von einem Hügel an der Mündung des
Goldenen Horns in den Bosporus sehen konnte, traf ich Ester. Sie war höchst
lebendig inmitten all der mit Einkäufen beschäftigten Sklavinnen, der Frauen
aus den Armenvierteln in ihren verblichenen weiten Kaftanen und der Menge, die
zwischen Möhren, Quitten, Zwiebel- und Rettichbüscheln hin und her wogte, Ester
in der vom Gesetz diktierten rosa Judentracht, mit ihrem umfangreichen,
wendigen Körper, ihrem nie stillstehenden Mundwerk und ihren unaufhörlich
Signale aussendenden Augen und Brauen.
    Als würde uns der ganze Markt dabei
zusehen, steckte sie den Brief, den ich ihr gab, mit sehr geheimnisvollen
Gesten, die Erfahrung verrieten, in ihren Schalwar. Dann sagte sie, Şeküre
denke an mich. Sie nahm ihren Bakschisch entgegen, wies aber nach meiner
Bemerkung: »Bitte beeil dich, bring ihn sogleich hin!« auf ihr Bündel und
sagte, sie habe noch sehr viel zu erledigen und könne meinen Brief erst gegen
Mittag überbringen. Ich bat sie noch, Şeküre auszurichten, daß ich die
drei großen jungen Meister aufsuchen würde.

12
  Man nennt mich Schmetterling
    Es war noch vor dem Mittagsgebet. Jemand
klopfte an die Tür, ich öffnete sie und schaute hinaus: Herr Kara. Er war in
unseren Gesellenjahren eine Zeitlang bei uns gewesen. Wir umarmten und küßten
uns. Ich war gespannt, ob er mir eine Nachricht von seinem Oheim gebracht habe,
doch er sagte, er wolle sich die Seiten, die Bilder anschauen, an denen ich
arbeitete, er sei als Freund gekommen und würde mich im Namen des Padischahs
auf eine Frage hin prüfen.
    Gut so, meinte ich. Welche ist die
für mich bestimmte Frage? Er nannte sie. So sei's denn!
    STIL UND SIGNATUR
    »Je größer die Zahl der Ehrlosen wird, die nicht
zur Freude des Auges und für den Glauben, sondern für Geld und Ansehen
illustrieren, desto mehr werden wir noch an Schlechtigkeit und Gier erleben,
wie die Vorliebe für Stil und Signatur.« Ich sagte dies nicht aus Überzeugung,
sondern hielt mich nur an die Regel bei dieser Einführung: Denn wahre Begabung
und Geschicklichkeit werden nicht einmal durch die Liebe zu Gold und Ruhm
zerstört. Nein, um die Wahrheit zu sagen, Geld und Ansehen sind das Recht der
Begabung und inspirieren sie mit Liebe, wie es mir geschehen ist. Doch wenn ich
das ausspreche, werden die mittelmäßigen, von Eifersucht geplagten
Illustratoren der Buchmalertruppe über mich herfallen, weil ich mir eine Blöße
gegeben habe, und zum Beweis, daß ich diese Tätigkeit viel mehr als sie liebe,
male ich dann einen Baum auf ein Reiskorn. Da ich weiß, daß dieses Streben nach
Stil, Signatur und Persönlichkeit aus dem Westen durch den Einfluß der Franken
und von weit her aus dem Osten durch ein paar armselige chinesische Meister
bis zu uns gekommen ist, die von den Bildern, welche die Jesuiten mitbrachten,
verführt und vom rechten Wege abgekommen sind, werde ich euch zu diesem Thema
drei lehrreiche Geschichten erzählen.
    DREIMAL STIL UND SIGNATUR
    ELIF
    Einst lebte auf seiner Burg, die in den
Bergen nördlich von Herat lag, ein junger Chan, der vom Malen und Verzieren
fasziniert war. Er liebte nur eine

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