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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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daß die Vorlage aus einem alten Buch – welches, war nicht
auszumachen –, vielleicht auch aus einem Sammelalbum auf rücksichtslose Weise
herausgeschnitten worden war. Es stand fest, Altmeister Osman nahm viele Dinge
nicht mehr so ernst.
    Als wir an Nuri Efendis Tisch kamen,
berichtete er stolz, daß er nach drei Wochen Arbeit die Verzierung des Siegels
beendet habe. Voll Ehrfurcht betrachtete ich den Namenszug, gezeichnet und ausgeschmückt
auf einem leeren Blatt, damit niemand erfuhr, an wen es zu welchem Zweck
abgesandt werden sollte. Ich weiß, daß so mancher aufsässige Pascha im Osten
von einer Revolte Abstand nahm, sobald er das edle und machtvolle Siegel des
Sultans zu sehen bekam.
    Danach warfen wir einen Blick auf
die neuesten Schriftwunder, die der Kalligraph Cemal vollbracht hatte, gingen
aber rasch vorbei, um nicht den Feinden der Farbe und Illustration recht geben
zu müssen, denen zufolge die eigentliche Kunst die Kalligraphie war, während
die Illustration lediglich ein Vorwand war, um jene ins rechte Licht zu rücken.
    Der Rahmenzieher Nasir besserte auf
einer Seite von Nizamis Hamse aus der Zeit der Timuriden ein Bild aus,
auf dem Hüsrev die entblößte Şirin beim Baden beobachtet – und verdarb
es dabei.
    Ein alter, fast blinder Meister von
zweiundneunzig Jahren, der nichts weiter zu erzählen wußte, als daß er vor
sechzig Jahren in Täbris die Hand des Altmeisters Behzat geküßt habe und der
legendenumwobene große Mann blind und betrunken gewesen sei, zeigte uns mit
zittrigen Händen die Verzierungen des Schreibzeugkästchens, das er in drei
Monaten fertigstellen und dann unserem Padischah als Festtagsgeschenk
überreichen wollte.
    Über die engen Zellen des unteren
Stockwerks, über die ganze Buchmalerwerkstatt mit ihren nahezu achtzig
Illustratoren, Lehrlingen und Gesellen hatte sich eine tiefe Stille gelegt. Es
war die Stille nach der Bastonade, wie ich sie oftmals erlebt hatte; sie wurde
hie und da von einem hektischen Lachen oder einem Scherz, hie und da auch von
ein, zwei Schluchzern – wie in meiner Gesellenzeit – oder von einem
unterdrückten Wimmern unterbrochen und erinnerte die Buchmaler auch an die
Prügel ihrer eigenen Gesellenjahre. Der Zweiundneunzigjährige ließ mich für
einen Augenblick etwas Tieferes spüren: Es ging zu Ende mit allem hier, weit
entfernt von allen Kriegen und Umwälzungen. Eine solche Stille mußte unmittelbar
vor dem Weltuntergang herrschen.
    Die Kunst des Malens ist die Stille
der Vernunft, die Musik des Auges.
    Als ich zum Abschied dem Altmeister
Osman die Hand küßte, empfand ich nicht nur große Ehrfurcht, sondern auch etwas
gänzlich anderes, das mein Inneres aufwühlte: ein Gemisch aus Bewunderung und
Mitleid, wie man es für einen Heiligen empfindet, ein seltsames Schuldgefühl.
Vielleicht auch, weil er ein Rivale des Oheims war, der heimlich wünschte, die
Malweisen der fränkischen Meister offen nachahmen zu lassen.
    Gleichzeitig fühlte ich, daß ich den
alten Meister der Meister zum letztenmal im Leben sah, wollte ihn aber noch
einmal erfreuen und stellte hastig eine Frage: »Großer Meister, efendim, was
unterscheidet den wahren von einem gewöhnlichen Illustrator?«
    Ich dachte, der an diese etwas
kriecherische Art von Fragen gewöhnte Erste Illustrator würde mich irgendwie
abwimmeln und hätte mich ohnehin jetzt schon vergessen.
    »Es gibt nicht nur ein einziges
Merkmal, um den wahren von dem unbegabten Illustrator ohne Glauben zu
unterscheiden«, sagte er voller Ernst. »Das ändert sich mit den Zeitläuften. Wichtig
ist, welchen Anstand und welche Fähigkeiten der Illustrator jenen Übeln
entgegensetzen kann, die unsere Kunst bedrohen. Um festzustellen, wieweit ein
junger Mann ein wahrer Buchmaler ist, würde ich ihn heute drei Dinge fragen.«
    »Und die wären?«
    »Ist er eigensinnig genug, dem neuen
Brauch gemäß den Chinesen und den Franken zu folgen und nach eigener Art in
einem ›höchst eigenen Stil‹ zu malen? Als Illustrator möchte jeder eine
andere Ausdrucksweise haben; versucht er, das zu beweisen, indem er wie die
fränkischen Meister seine Signatur irgendwo auf seine Malerei setzt? Ich würde
ihn zuerst nach Stil und Signatur fragen, um dies herauszufinden.«
    Ich fragte respektvoll: »Und dann?«
    »Dann möchte ich wissen, was dieser
Illustrator empfindet, wenn die Auftraggeber unserer Bücher, die Schahs und
Padischahs, sterben, die Bände in andere Hände geraten und auseinandergerissen
werden, wenn man

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