Pamuk, Orhan
auch Nachricht vom Altmeister Osman. Es gebe da eine Frage,
sagte er. Altmeister Osman meine, es sei die Zeit, die den echten Illustrator
von den anderen unterscheide. Die Zeit des Schmückens. Was ich darüber dächte?
Hört zu.
ILLUSTRIEREN UND ZEIT
Wie jeder weiß, haben in alten Zeiten die
Maler der osmanischen Welt, so auch die alten arabischen Meister, die Welt wie
heute die fränkischen Ungläubigen gesehen und alles, den Vagabunden mit dem
Straßenköter und den Sellerie auf der Auslage, vom eigenen Standort aus
betrachtet und gemalt. Da sie von dem Verfahren der Perspektive, deren sich die
fränkischen Meister heute so stolz rühmen, keine Ahnung hatten, wurde ihr
Reich auf die Möglichkeiten ihrer Sicht des Vagabunden und des Selleries
begrenzt und dadurch öde und reizlos. Dann aber geschah etwas, und unsere ganze
Welt des Malens veränderte sich. Ich werde von dort beginnen und erzählen.
DREI FABELN VOM ILLUSTRIEREN UND DER
ZEIT
ELIF
Als Bagdad vor nunmehr dreihundertfünfzig
Jahren an einem kalten Tag im Februar von den Mongolen erobert und geplündert
wurde, lebte dort Ibn Schakir, der berühmteste und beste Kalligraph nicht nur
der arabischen, sondern der gesamten islamischen Welt, und trotz seiner jungen
Jahre enthielten die weltberühmten Bibliotheken von Bagdad zweiundzwanzig von
ihm geschriebene Bände, zumeist den Koran. Sein Leben war von einer unendlich
tiefen Zeitvorstellung bestimmt, weil er an das Bestehen dieser Bücher bis zum
Jüngsten Tage glaubte. Bei flackerndem Kerzenlicht hatte er eine ganze Nacht
hindurch an dem neuesten dieser heute gänzlich unbekannten, legendären Bücher
gearbeitet, die nun von den Kriegern des Mongolen-Chans Hülagü eins nach dem
anderen zerrissen, verbrannt und in den Tigris geworfen werden sollten. Da die
arabischen Kalligraphen, welche an die Tradition und die Unsterblichkeit der
Bücher glaubten, in der Regel zum Schutz des Auges vor dem Erblinden dem
Sonnenaufgang den Rücken kehrten und den Blick auf den westlichen Horizont
richteten, stieg Ibn Schakir in der Morgenkühle auf das Minarett der
Kalifen-Moschee, von deren Umgang herunter er alles mit ansehen mußte, was die
fünfhundertjährige Überlieferung der Schreibtradition beenden sollte. Er sah
zuerst, wie die grausamen Krieger des Hülagü in Bagdad einrückten, und blieb
oben auf dem Minarett. Er sah, wie sie die ganze Stadt plünderten und
brandschatzten, Hunderttausende von Menschen niedermetzelten, den letzten der
islamischen Kalifen umbrachten, die fünfhundert Jahre in Bagdad regiert
hatten, sah, wie sie die Frauen schändeten, die Bibliotheken anzündeten und
Zehntausende von Büchern in den Tigris warfen. Während er zwei Tage später
unter Leichengestank und Todesschreien auf den Fluß hinunterschaute, dessen
Wasser von der ausgelaufenen Tinte der Bücher rötlich gefärbt war, ging es ihm
durch den Kopf, daß die vielen mit Kalligraphie gefüllten Bücher nichts hatten
tun können, um die schreckliche Zerstörung und Vernichtung aufzuhalten, daß sie
jetzt für immer verloren waren, und er schwor sich, nie mehr zu schreiben.
Mehr noch, es trieb ihn dazu, seinen Schmerz und das schreckliche Erleben mit
der bis dahin als eine Auflehnung gegen Allah angesehenen, verachteten
Illustration auszudrücken, und er griff nach dem Papier, das er ständig bei
sich trug, und begann zu zeichnen, was er vom Minarett aus sah. Diesem
erfreulichen Wunder verdanken wir nach dem Einfall der Mongolen die
dreihundertjährige Lebenskraft des islamischen Bildes, das sich von denen der
Götzenanbeter und der Christen unterscheidet: es zieht eine Horizontlinie,
sieht die Welt wie Allah von oben und ist aus tiefem Schmerz heraus gemalt.
Dazu kommt, daß Ibn Schakir, um die Malkunst der chinesischen Meister zu
lernen, nach dem Gemetzel, die Bilder in der Hand und den Wunsch zum Malen im
Herzen, nach Norden in jene Richtung zog, aus der die Heere der Mongolen
gekommen waren. Auf diese Weise kam es, daß der Gedanke von der unendlichen Zeit,
den die arabischen Kalligraphen fünfhundert Jahre im Herzen bewahrten, sich
nicht in der Schrift, sondern im Bild bewahrheiten sollte. Der Beweis dafür
sind die Bücher, die Bände, die auseinandergerissen und zerstört werden, doch
die darin enthaltenen Bilderseiten gehen in andere Bücher und Bände ein, sie
leben ewig und geben auch weiterhin Einblick in das Reich Allahs.
BE
In einer so alten wie neuen Zeit, als sich alle
Dinge allerorten stets und ständig
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