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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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Anhänger des Erzurumi
werden zu dem Begräbnis kommen, es wird eine große Menschenmenge sein«, meinte
ich. »Die Verwandten sollen Blutrache geschworen haben.«
    Doch Şeküre war schon in Karas
Brief vertieft. Aufmerksam und ärgerlich betrachtete ich ihr Gesicht. Diese
Frau hatte soviel Lebenserfahrung, daß sie die Spiegelung der Leidenschaften
auf ihrem Gesicht in Schach halten konnte. Ich spürte, daß sie mein Schweigen
guthieß, während sie das Schreiben las, weil sie damit die besondere Bedeutung,
die sie Karas Brief zumaß, von mir bestätigt fand. Als sie fertig war mit Lesen
und mich anlächelte, mußte ich ihr zuliebe die Frage stellen: »Was sagt er?«
    »Wie in der Kinderzeit – er ist in
mich verliebt.«
    »Was denkst du?«
    »Ich bin verheiratet, warte auf
meinen Ehemann.«
    Anders als ihr vermutet war ich,
nachdem sie meine Anteilnahme gewollt hatte, keineswegs böse über diese Lüge,
nein, zugegeben, ich spürte sogar Erleichterung. Wenn viele der jungen Männer
und Frauen, deren Briefe ich überbrachte und denen ich Ratschläge fürs Leben
erteilte, sich so vorsichtig wie Şeküre verhalten hätten, wären meine wie
auch deren Bemühungen um die Hälfte leichter gewesen, ja, manche von ihnen
hätten sogar einen besseren Ehemann finden können.
    »Was sagt der andere?« fragte ich dennoch.
    »Hasans Brief will ich jetzt nicht
lesen«, antwortete sie. »Weiß Hasan von Karas Rückkehr nach Istanbul?«
    »Er weiß nicht einmal, daß es Kara
gibt!«
    »Redest du mit Hasan?« fragte sie
und machte die schönen schwarzen Augen weit auf.
    »Weil du es willst.«
    »Und?«
    »Er leidet Qualen! Und er liebt dich
sehr. Auch wenn sich dein Herz einem anderen zuneigen sollte, wird es ab jetzt
schwer sein, ihn loszuwerden. Du hast seine Briefe angenommen und so seine
Hoffnung erweckt. Du mußt ihn fürchten. Denn er will dich nicht nur
zurückholen, er hat sich darauf eingestellt, den Tod seines älteren Bruders
bestätigen zu lassen und dich zu ehelichen.« Ich lächelte dabei, um den
drohenden Unterton zu mildern und mich nicht zur Fürsprecherin dieses Unseligen
zu machen.
    »Na gut, und was hat der andere
gesagt?« fragte sie, doch wußte sie, nach wem sie fragte?
    »Der Illustrator?«
    »Mein Verstand ist ganz
durcheinander«, sagte sie auf einmal, vielleicht, weil sie sich vor ihren
Gedanken fürchtete. »Und es scheint mir, als würde alles noch mehr
durcheinandergeraten. Mein Vater wird alt. Was soll in Zukunft aus uns, aus den
Waisen werden? Ich ahne, daß uns allen etwas Böses bevorsteht, daß der Satan
schlimme Dinge für uns bereithält. Sag mir etwas, Ester, was mir Freude macht!
    »Sorge dich nicht, meine liebe Şeküre«,
redete ich ihr, innerlich bebend, zu. »Du bist wirklich sehr klug, sehr schön.
Eines Tages wirst du das Bett mit deinem stattlichen Ehemann teilen, ihn umarmen,
allen Kummer vergessen und glücklich sein. Ich lese es in deinen Augen.«
    Ich fühlte eine solche Zuneigung,
daß mir die Tränen kamen. »Schon gut, aber wer wird dieser Ehemann sein?«
    »Sagt dir das nicht dein kluges
Herz?«
    »Ich bin unglücklich, denn ich
verstehe nicht, was mein Herz mir sagt.«
    Wir schwiegen. Für einen Augenblick
dachte ich, Şeküre vertraue mir überhaupt nicht, verberge ihr Mißtrauen
meisterhaft, um mich auszuhorchen, und wolle Mitleid erregen. Dann begriff ich,
daß sie die Briefe nicht sofort beantworten würde, und sagte ihr, was ich all
meinen Mädchen, sogar den schieläugigen, in Aussicht stelle, schnappte mir mein
Bündel und verschwand über den Hof: »Wenn du deine schönen Augen richtig
offenhältst, dann geschieht dir nichts Böses, meine Liebe, mach dir keine
Sorgen.«

16
  Ich, Şeküre
    Wenn Ester die Hausiererin mich aufsuchte, konnte
ich mir bisher jedesmal ausmalen, wie der, dessen Herz ich zum Pochen brachte,
der verliebt war in mich, die kluge, schöne, gebildete und trotz des
Witwenstandes anständige Frau, sich schließlich aufraffte, seinen Brief
aufsetzte und abschickte. Und wenn ich sah, daß die überbrachten Briefe stets
von den gleichen Bewerbern kamen, gewann ich zumindest an Kraft und Geduld
hinzu, um weiterhin auf meinen Ehemann zu warten. Jetzt aber gerate ich nach
jedem Besuch von Ester ganz durcheinander und fühle mich noch elender als
zuvor.
    Ich horchte auf die Laute der Welt.
Aus der Küche kommt ein Brodeln und der Geruch von Zwiebeln und Zitronen.
Hayriye kocht, wie ich weiß, Kürbisgemüse. Şevket und Orhan tragen im Hof beim

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