Pamuk, Orhan
wir uns mischen können mit unserer Schuld. Nicht an den Gelehrten,
die sie beherbergt, an den Bibliotheken, Illustratoren, Kalligraphen und
Medresen sollte die Klugheit einer Stadt gemessen werden, sondern an der
Vielzahl der Morde, die jahrtausendelang hinterhältig in den dunklen Gassen
verübt worden sind. Ich hege keinen Zweifel, daß Istanbul dieser Logik gemäß
die klügste Stadt des ganzen Weltalls ist.
Nach Kara und dem Oheim verließ auch
ich am Landungssteg von Unkapanı
das Boot. Während sie, aufeinander gestützt, die Anhöhe erstiegen,
blieb ich ihnen auf den Fersen. Auf einer alten Brandstätte hinter der Moschee
Sultan Mehmets hielten sie an, sprachen ein letztes Mal miteinander und
trennten sich. Allein gelassen, schien der Oheim Efendi auf einmal nur noch
ein hilfloser Greis zu sein. Ich wollte plötzlich rasch zu ihm hinlaufen, ihm
von den Verleumdungen jenes Elenden erzählen, von dessen Begräbnis wir kamen,
und von dem, was ich getan hatte, um uns vor diesen Verleumdungen zu schützen,
und wollte ihn fragen: »Stimmt es, was Fein Efendi gesagt hat, haben wir das
Vertrauen unseres Padischahs mißbraucht in den von uns gemalten Bildern, haben
wir Verrat getrieben an unserer Tradition des Illustrierens, haben wir unseren
Glauben beschimpft?«
Es war Abend, ich hielt mitten auf
der verschneiten Straße an und blickte den dunklen Weg hinab, verlassen von den
heimkehrenden Kindern und Vätern, freigemacht für uns, mich und die Dämonen,
Feen, Räuber, Diebe und die Trauer der verschneiten Bäume. Dort hinten, ganz am
Ende, in dem prachtvollen zweistöckigen Haus des Oheims unter dem Dach, das ich
für einen Augenblick zwischen den kahlen Ästen der Kastanien durchschimmern
sah, dort lebt die schönste Frau der Welt. Doch ich will nicht den Verstand
verlieren.
19
Ich, die Münze
Ich bin ein herrliches Goldstück von
zweiundzwanzig Karat. Das Siegel des Schirmherrn der Welt, unseres
hochverehrten Padischahs, ist mir eingeprägt. Da Storch, einer der großen
Altmeister unseres Sultans, hier in diesem schönen, nach dem Begräbnis so
kummervollen Kaffeehaus mein Bild um Mitternacht zu Papier gebracht hat,
konnte ich nicht vergoldet werden, doch eure Phantasie vermag das zu ergänzen.
Dies ist mein Abbild, ich selbst aber befinde mich im Geldbeutel des großen
Altmeisters, eures Illustrator-Bruders Storch. Jetzt erhebt er sich, holt mich
aus dem Beutel und stellt mich euch vor. Merhaba, merhaba, seid gegrüßt,
ihr Meister der Künste und ihr Gäste! Mein Glanz weitet euch die Augen, ihr
seid erregt vom Widerschein, den die Flamme der Öllampe auf mich wirft, und ihr
seid neidisch auf meinen heutigen Besitzer, Altmeister Storch. Recht habt ihr,
denn es gibt keinen anderen Maßstab außer mir für das Können eines
Illustrators.
Während der letzten drei Monate hat
Altmeister Storch insgesamt siebenundvierzig Goldstücke meiner Art erworben.
Alle befinden wir uns in diesem Beutel, und ihr seht, Herr Storch verbirgt uns
vor niemandem, und außerdem weiß er, daß kein anderer der Illustratoren von
Istanbul mehr verdient. Ich bin sehr stolz darauf, als solch ein Maßstab in
diesem Berufsstand zu gelten und auch den nutzlosen Disputen ein Ende gesetzt
zu haben. Früher begnügten sich, noch bevor wir abends dem Kaffee zusprachen
und unser Verstand klarer wurde, die spatzenhirnigen Buchmaler nicht allein mit
dem Streit nein, ich bin kunstfertiger, nein, ich bin der eigentliche
Farbkünstler, ich zeichne die besten Bäume, niemand ist mir über im Zeichnen
der Wolken –, sondern prügelten sich auch noch jede Nacht und schlugen
einander die Zähne aus. Daß jetzt aber alles von meiner Denkungsart beherrscht
wird, hat der Arbeitsordnung in der Buchmalerwerkstatt zu einer besseren
Harmonie verholfen, ja, ihr sogar eine schöne, der alten Meister von Herat
würdige Ordnung verliehen.
Laßt uns die verschiedensten Dinge
aufzählen, die ihr dank dieser meiner Denkungsart für mich eintauschen könnt:
den einzelnen Fuß, der ein Fünfzigstel einer jungen und schönen Sklavin ausmacht;
einen anständigen Barbierspiegel aus Nußbaum mit beinernem Rand; eine Truhe
mit Schubfächern, ordentlich bemalt und mit einer Rosette aus Blattgold für
neunzig silberne Asper geschmückt; einhundertzwanzig frische Brote; eine
Grabstelle und Särge für drei Personen; ein silbernes Amulett; ein Zehntel eines
Pferdes; die Beine einer alten, dicken Sklavin; ein Wasserbüffelkalb; zwei gute
chinesische Teller; einen Monat
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